2022: Rückgang der Sozialhilfequote auf 2,9%

Im Jahr 2022 haben in der Schweiz 256 800 Personen mindestens einmal eine finanzielle Leistung der wirtschaftlichen Sozialhilfe erhalten. Im Vergleich zum Vorjahr sinkt die Sozialhilfequote damit um 0,2 Prozentpunkte auf 2,9%. Seit der Einführung der Sozialhilfestatistik im Jahr 2005 erreichte die Sozialhilfequote nur im Jahr 2008 dieses Niveau. Dieser Rückgang geht einher mit erneut rückgängigen Zahlen von neu eröffneten Sozialhilfedossiers bei einer gleichzeitigen Zunahme der abgeschlossenen Sozialhilfebezüge. Dies sind einige Ergebnisse der Sozialhilfestatistik des Bundesamtes für Statistik (BFS).

2022 waren 8300 Personen weniger auf Sozialhilfe angewiesen als noch im Vorjahr, was einer Abnahme von 3,1% entspricht. Diese wirkte sich auf die Sozialhilfequote aus, also den Anteil aller sozialhilfebeziehenden Personen an der ständigen Wohnbevölkerung: sie sank auf 2,9%. Befürchtungen, dass sich als Spätfolge der Covid-19-Pandemie insbesondere die Arbeitslosigkeit negativ auf die Sozialhilfe auswirken könnte, bestätigten sich weiterhin nicht.

Zum einen haben die Massnahmen des Bundes und der Kantone zur Eindämmung der sozialen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, die bis Ende 2021 in Kraft waren, nachhaltig zu dieser Entwicklung beigetragen.

Zum anderen wirkte sich das anhaltende Wirtschaftswachstum und die günstige Lage auf dem Arbeitsmarkt positiv auf die Sozialhilfe aus. Im Vergleich zum Vorjahr sank im Jahr 2022 die Anzahl neu eröffneter Sozialhilfedossiers um 5,9% und die Anzahl abgeschlossener Sozialhilfedossier nahm um 0,9% zu. Der Rückgang der Sozialhilfequote ist in allen Risikogruppen festzustellen. Weiterhin weisen Minderjährige (4,8%), Ausländerinnen und Ausländer (5,9%) sowie Geschiedene (4,5%) die höchsten Sozialhilfequoten aus. Gerade in diesen Risikogruppen war jedoch der Rückgang der Sozialhilfequote tendenziell am stärksten ausgeprägt (mindestens -0,2%-Punkte).

Sozialhilfequote nimmt in 14 Kantonen ab

Im Vergleich zum Vorjahr sank die Sozialhilfequote in 14 Kantonen, in zehn Kantonen blieb sie unverändert und in zwei Kantonen nahm sie zu. In diesen beiden Kantonen stieg, anders als in Kantonen mit einer abnehmenden oder stagnierenden Quote, 2022 die Anzahl Neueintritte in die Sozialhilfe. Die Entwicklung auf der Ebene Schweiz war geprägt von den sinkenden Quoten in den bevölkerungsreichen Kantonen Zürich und Bern (-0,2%-Punkte) sowie der deutlichen Abnahme in den Kantonen Basel-Stadt (-0,4%-Punkte) und Neuchâtel (-0,3%-Punkte).

67 000 Personen mit Schutzstatus S bezogen Sozialhilfe

Insgesamt bezogen im Jahr 2022 66 700 Personen mit Schutzstatus S Sozialhilfe. Davon waren 21 400 Personen minderjährig. Von den 45 300 volljährigen Personen waren 72,8% weiblich, knapp die Hälfte war zwischen 26- und 45-jährig und ebenfalls knapp die Hälfte war verheiratet (inkl. eingetragene Partnerschaften). Unter den volljährigen Leistungsbeziehenden mit dem Schutzstatus S waren rund 13% (5800 Personen) 65-jährig oder älter. Da sie kein Anrecht auf eine AHV-Rente oder auf Ergänzungsleistungen haben, sind sie im Vergleich zur wirtschaftlichen Sozialhilfe stark übervertreten; dort lag der entsprechende Anteil bei 1,7%. Setzt man die Anzahl Sozialhilfe­beziehender mit Schutzstatus S in Bezug zu allen Personen mit diesem Status, so resultiert ein Anteil von 89,0% Schutzsuchender, die mindestens einmal im Jahr 2022 eine Leistung der Sozialhilfe in Anspruch genommen haben.

Der Schutzstatus S ermöglicht es der Schweiz einer bestimmten Personengruppe unter besonderen Umständen schnell Schutz zu gewähren. Dieser Status wurde am 11. März 2022 zum ersten Mal für Personen aus der Ukraine aktiviert. Personen mit Schutzstatus S haben Anrecht auf Sozialhilfeleistungen.

Zunahme der Asylgesuche sowie der unterstützten Personen im Asylbereich

Im Jahr 2022 ist die Anzahl eingereichter Asylgesuche (ohne Schutzstatus S) in der Schweiz im Vergleich zum Vorjahr gestiegen (24 500, +64,2%). Aufgrund dieser Zunahme ist die Anzahl der von der Sozialhilfe unterstützten Personen im Asylbereich ebenfalls gestiegen um 6,1% auf 32 100. Im Flüchtlingsbereich nahm die Anzahl Sozialhilfebeziehender um -2,8% auf rund 22 500 Personen ab.

Ausschlaggebend dafür ist, dass viele Personen aus personenreichen Kohorten von Asylsuchenden der Jahre 2014 bis 2016 als Flüchtlinge anerkannt wurden und im Jahr 2022 Aufenthaltsdauern von fünf respektive sieben Jahren und mehr aufwiesen. Ab diesem Zeitpunkt befinden sie sich in der finanziellen Zuständigkeit der Kantone respektive Gemeinden und werden in der Statistik der wirtschaftlichen Sozialhilfe ausgewiesen. Der Anteil Ausländer und Ausländerinnen in der wirtschaftlichen Sozialhilfe mit einem Asylhintergrund (vorläufig Aufgenommene sowie Flüchtlinge mit Asyl mit mehr als 7 bzw. 5 Jahren Aufenthalt) nahm durch diese Entwicklung zu und lag im Jahr 2022 bei 26,9% (35 500 Personen, Anteil 2019: 17,7%).

Ablösungen aus der Sozialhilfe in einer Längsschnittoptik

Vor dem Hintergrund dieser Verschiebungen stellt sich die Frage nach den längerfristigen Ablösungsprozessen aus der Sozialhilfe. Längsschnittanalysen zeigen, dass in der Kohorte der neuen Asylsuchenden aus dem Jahr 2016 der Anteil Sozialhilfebeziehender im Jahr nach der Einreise bei rund 89,0% lag. Im Jahr 2022, das heisst nach sieben Jahren, lag die Bezugsquote für diese Kohorte bei 69,5%. Dies entspricht einer Differenz von rund 20 Prozentpunkten gegenüber der Situation ein Jahr nach der Einreise. Werden erwerbstätige Sozialhilfebeziehende bei der Berechnung der Bezugsquote ausgeklammert, lag diese im Jahr 2022 bei 42,0%. Das heisst, für rund 27% der unterstützten Personen in der Kohorte reichten sieben Jahre nach Einreise die erzielten Einkommen nicht aus, um den Lebensunterhalt zu sichern.

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Teuerung: Schweizer Gassenküchen platzen aus allen Nähten

Für viele Menschen wird die Luft aufgrund der Teuerung immer dünner. Das spüren auch soziale Einrichtungen wie Gassenküchen oder das Hilfswerk Caritas. Nicht nur Obdachlose und Randständige verpflegen sich in einer Gassenküche. Auch Working Poors und Leute aus der Unter- und Mittelschicht.

Immer mehr Menschen in der Schweiz sind von Armut betroffen: Die neuesten Zahlen dazu vom Bundesamt für Statistik sind von 2021, damals litten 8,7 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung in Privathaushalten an Einkommensarmut, also rund 745'000 Personen. Die Tendenz seit 2021: deutlich steigend. Das spürt beispielsweise das Hilfswerk Caritas. «Seit Beginn des Ukraine-Kriegs ist der Umsatz bei unseren Caritas-Märkten um 40 Prozent gestiegen», kommentiert Philipp Holderegger auf Anfrage. Jeder andere Detailhändler würde sich bei solchen Zahlen wohl die Finger lecken, doch für Caritas sei das ein Alarmsignal.

Es wird wohl noch schlimmer

Die Läden, die günstigere Produkte für Menschen am Existenzminimum anbieten, würden wie kleine Supermärkte ihre Kundschaft eigentlich sehr gut kennen. «Doch zurzeit kommen jeden Tag neue Gesichter, das fällt auf», so Holderegger. Dies nicht nur wegen steigender Krankenkassen, sondern auch, weil viele Produkte des täglichen Warenkorbs teurer geworden seien. Gewisse Weizenprodukte sind wegen des Krieges im Kornspeicher Ukraine bis zu 50 Prozent teurer geworden, Speiseöl um 34 Prozent. Schon jetzt wären 15 Prozent der Bevölkerung zu Angeboten von Caritas berechtigt – ein Sechstel der Bevölkerung. Holderegger: «Dies dürfte im kommenden Jahr weiter ansteigen.»

Rund ein Viertel mehr in Basel

Caritas ist das eine, wer dann in noch grössere finanzielle Probleme gerät, der sucht eine Gassenküche auf. Die Einrichtungen, die in allen grösseren Städten zu finden sind, bieten sehr günstige warme Mahlzeiten an. Auch dort hat die Nachfrage stark angezogen. Dies bestätigt beispielsweise Andy Bensegger von der Gassenküche Basel: «Seit Mitte Juni sind bei uns die Gästezahlen gestiegen, wir reden von ca. 20 bis 25 Prozent bis Mitte September.» Die Gründe seien gemäss Bensegger nicht ganz so einfach zu erklären: «Es gibt mehrere Faktoren.»

Verdoppelung in St. Gallen

Zum einen sei dies sicherlich die Teuerung. Aber auch die soziale Komponente. Als sich zum Beispiel im Hitzesommer die älteren Menschen nicht mehr gross draussen aufhalten konnten, sei die Gassenküche umso wichtiger geworden. In St. Gallen betreibt die Stiftung Suchthilfe die Gassenküche. Auch dort wird zurzeit förmlich die Türe eingerannt. Geschäftsleiterin Regine Rust bestätigt die höhere Nachfrage bei der Essensausgabe: Seit Anfang Jahr habe sie sich ungefähr verdoppelt. Auch das Badener Sozialwerk «Hope» wird jüngst wesentlich häufiger aufgesucht.

Weiterlesen - ein Beitrag von Marcel Urech und Silvan Haenni erschienen am 12.12.2023

Job und Kids: So klappt der Fam-Jam

Im Bestreben, bei der Kinderbetreuung alles richtig zu machen, reiben sich viele Eltern auf: zwischen Karriere und Familie, den eigenen Ambitionen und dem Anspruch einer Gesellschaft, die scheinbar nur Perfektionismus belohnt. Gibt es einen Ausweg?

«Eltern sollten für Kinder zwar wie ein Leuchtturm sein, aber nicht perfekt und fehlerfrei. Perfektion, das ist die reine Hölle», sagt der dänische Autor und Familientherapeut Jesper Juul. Doch das ist leichter gesagt als getan. Mutter oder Vater zu sein, das ist oft ein Knochenjob, mit dem die eigene Karriere und der persönliche Erfolg konkurrieren. Darüber hinaus soll man ein:e gute:r Freund:in, eine gute Tochter, ein guter Sohn, ein:e liebevolle:r Partner:in und immer für die Kinder da sein – und sich dennoch selbst nie aus den Augen verlieren.

So klingt die Vereinbarkeit von Job und Familie nach einem schier unmöglichen Unterfangen. «Es besteht sicher noch Verbesserungspotential», weiss Ben Kneubühler, Fachpsychologe für Psychotherapie FSP und Single-Dad aus Zürich. Die grösste Schwierigkeit aus seiner Sicht? «Zeit ist eine beschränkte Ressource, und Vereinbarkeit benötigt Planung. Die Anforderungen einer Familie sind aber stets variabel, und auch die verschiedenen Jobprofile nehmen Elternteile komplett unterschiedlich und oft unvorhersehbar ein. Dies erfordert in vielen Fällen ein hohes Mass an Flexibilität», erklärt Kneubühler.

5 Prozent der Eltern in der Schweiz sind von elterlichem Burnout betroffen
 

Laut Pro Familia Schweiz rangiert die Schweiz unter den Top 10 der Länder, die am stärksten vom elterlichen Burnout betroffen sind. Kneubühler weiss: «Die geforderte Flexibilität birgt ein erhebliches Potenzial für Stress. Es wird oft als belastend erlebt, den eigenen Ansprüchen weder im Job noch in der Familie gerecht zu werden. Auch zwischenmenschliche Konflikte können dadurch begünstigt werden.» Und was, wenn keiner der beiden Elternteile zurückstecken will? «Bis zu einem gewissen Grad kann das Unterstützung von aussen kompensieren», gibt der Fachpsychologe zu bedenken.

Zeit für sich und Gleichberechtigung
 

Generell ist es wichtig, sich Zeit für sich selbst zu nehmen. Sich um sich selbst zu kümmern, um dann auch für andere da sein zu können, heisst es seitens Pro Familia. Auch hier wird betont: Man solle ein glücklicher, kein perfekter Elternteil sein. Viele Eltern würden sich jedoch nicht trauen, um Hilfe zu bitten – aus Angst, als Versager dazustehen. Und Zeit ist doch gerade das, was man so gut wie nie hat, wenn die Kinder schreien, die Waschmaschine fertig ist, der nächste Call ansteht und man eigentlich endlich sein Start-up auf die Beine stellen möchte. Die innere Zerrissenheit führt oft zu gebrochenen Herzen: «Als Paar fühlt man sich vom Partner oder der Partnerin oft zu wenig unterstützt und verstanden, wenn der oder die andere lieber ihr eigenes Ding macht. Zudem stellt sich immer wieder die Frage, welches Familienmodell oder -ideal sich beide wünschen. Hier braucht es Kommunikation – und zwar regelmässig. All das kann zu Streit, Enttäuschung, Wut und schlechtem Gewissen führen», erklärt Kneubühler. Auch den Kindern gegenüber könnten Schuldgefühle entstehen – denn man ist ja nie da! Fühlen sich die Eltern unter Druck oder treten ständig Spannungen zwischen ihnen auf, leiden darunter auch die Kleinen.

Wir diskutieren und verhandeln also. Während 1970 in der Schweiz noch 75 Prozent der Familien traditionell organisiert waren, sind es 2020 laut der Universität St. Gallen im Schnitt immerhin nur noch rund 16 Prozent. Dennoch: Das Konzept «Papa bleibt daheim, Mama arbeitet» ist gesellschaftlich noch immer nicht ganz angekommen, der Anteil davon liegt bei unter 3 Prozent. «Diese Stereotypen sind tief in unseren kulturellen Normen verankert. Sie werden trotz grösserem Bewusstsein und mehr Flexibilität nach wie vor im Alltag, in den Medien und teilweise auch durch die Rahmenbedingungen aufrechterhalten», so Kneubühler.

Weiterlesen - ein Beitrag erschienen am 10.12.2023 auf www.scheizer-illustrierte.ch

Pflege von Angehörigen: «Ich erfuhr zufällig, dass mir 3000.- Lohn pro Monat zustehen»

Andrea* erfuhr durch Zufall, dass sie für die Pflege ihres Sohns mit Behinderung einen Lohn einfordern kann. Betroffene und Spitex erklären, wie die bezahlte Angehörigenpflege den steigenden Krankenkassenkosten entgegenwirken könnte.

Wer Angehörige pflegt, laufe Gefahr, in die Armut abzurutschen. Das schreibt das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in einem Bericht aus dem Jahr 2020. Im Jahr 2016 leisteten rund 300'000 Personen unbezahlte Pflegearbeit – in einem Umfang von insgesamt 80 Millionen Stunden, auch das hält das BAG fest. Andrea* aus Zürich hat einen Sohn mit Behinderung. Miro* leidet an einer unbalancierten Translokation. Dass er diesen Gendefekt hat, haben Andrea und ihr Mann erst herausgefunden, als ihr Sohn acht Monate alt war, denn er entwickelte sich nicht normal.

So erfuhr Andrea von dem Angebot

Nach dem Mutterschutz hatte Andrea noch 80 Prozent gearbeitet. Als klar wurde, dass Miro eine Behinderung hat, musste Andrea ihr Pensum auf 50 Prozent reduzieren, denn je älter ihr Kind wurde, desto mehr Pflege brauchte es. Seitdem Miro die Schule besucht, arbeitet Andrea wieder 60 Prozent. Miro ist nun sieben Jahre alt, er kann nicht richtig laufen, sprechen oder essen. Seine Eltern geben ihm Flüssignahrung, wechseln seine Windeln und müssen ihn auch oft tragen. Man könnte sagen, dass er noch auf dem Entwicklungsstand eines Babys ist. Je älter er wird, desto zeitintensiver wird es, ihn richtig zu pflegen», erklärt Andrea. Bis Miro im zweiten Kindergarten war, hat Andrea ihn unentgeltlich gepflegt. Der Grund dafür: Andrea wurde bis dahin von niemandem darüber informiert, dass sie Anspruch darauf hat, für die mehrstündige Pflegearbeit, die sie Tag für Tag leistet, entschädigt zu werden. Vor einem Jahr, also als Miro fast sechs Jahre alt war, hat Andrea von einer Mutter eines Mitschülers von Miro erfahren, dass diese für die Pflege ihres Sohnes bei der Spitex angestellt ist und für die Arbeit bezahlt wird. Eigentlich bezahlt die Spitex erst, wenn das Kind bereits sechs Jahre alt ist, diese Mutter erhielt aber bereits einen Lohn, als ihr Sohn erst fünfeinhalb Jahre alt war. Dieses Beispiel zeigt, dass je nach Einschränkungsgrad Ausnahmen möglich sind. Doch nicht nur Andrea erfuhr durch Zufall von diesem System, auch die Mutter des anderen Kindes wurde nicht von einer offiziellen Stelle darauf aufmerksam gemacht: «Unsere Kinder werden von einem speziellen Taxi in den Kindergarten und die Heilpädagogische Schule gebracht. Der Fahrer dieses Behindertentransporters hat sie mit einem Flyer darauf hingewiesen, dass sie finanziell unterstützt werden könnte.» Andrea hat daraufhin eine Spitex ausgesucht und sich anstellen lassen. Nun erhält sie für jede Stunde, die sie ihren Sohn pflegt, 40 Franken brutto, diese Kosten trägt die Krankenkasse ihres Sohnes. Bei einem Tagessatz von jeweils drei Stunden am Tag erhält sie normalerweise einen Nettolohn von rund 3000 Franken. Während des ersten Jahres, in dem Andrea bezahlt wurde für die Pflegearbeit, musste sie beim Schweizerischen Roten Kreuz einen Pflegehelferkurs besuchen. Hätte sie diesen Kurs nicht besucht, hätte die Krankenkasse die Pflegestunden nicht mehr vergütet. Die Krankenkasse macht zudem regelmässig Abklärungen bei Andrea zu Hause, so wird jeweils geprüft, ob der Pflegeaufwand weiterhin besteht und in welchem Zeitrahmen. Auch von einer Spitex-Mitarbeiterin wird Andrea mehrmals im Jahr besucht. Diese kontrolliert die Abläufe und hält fest, welche Arbeiten bezahlt werden müssen.

Kein Geld in den Ferien

Doch Andrea erhält nicht jeden Monat gleich viel Geld: «Die Krankenkasse bezahlt mich nicht, wenn das Kind im Spital ist. Das ist klar. Aber ich werde auch nicht bezahlt, wenn meine Familie und ich in die Ferien gehen. Die Logik erschliesst sich mir nicht ganz – ich muss mein Kind schliesslich auch in den Ferien pflegen, der Aufwand ist genau gleich.» Zudem werde sie nur für sechs Tage die Woche bezahlt, weil das Arbeitsgesetz vorgibt, dass jeder und jede Angestellte mindestens einen Tag freihaben muss pro Woche. «Ich arbeite trotzdem sieben Tage die Woche, aber werde nur für sechs bezahlt», sagt Andrea. Trotzdem: Dass die Spitex Andrea nun regelmässig einen Lohn gibt, hat ihr Leben erleichtert. Zuvor hat ihr Sohn bereits rund 2000 Franken Hilflosenentschädigung pro Monat erhalten. Dieses Geld verwendet Andrea beispielsweise für Miros Spezialessen und Windeln. Erst vor kurzem musste sie ein Pflegebett kaufen, weil er aus dem normalen Bett regelmässig ausbüxte. Kostenpunkt: 6000 bis 8000 Franken. Für solche Investitionen sei es sehr hilfreich, wenn sie Geld aus dem Spitexlohn oder der Hilflosenentschädigung verwenden kann, so Andrea. Der Spitexlohn gibt ihr Sicherheit und macht auch Lohneinbussen wett: «Ich würde bestimmt mehr arbeiten, wenn mein Sohn keine Behinderung hätte, schliesslich geht er schon zur Schule. Aber das geht nun mal nicht.»

Das hält das Umfeld von der Entschädigung

Andreas Freunde und Bekannte freuten sich für sie, als sie erfuhren, dass sie mit 3000 Franken pro Monat entschädigt wird für ihre geleistete Pflegearbeit. Missgünstig war niemand, allen sei bewusst, wie viel Zeit sie für die Pflege ihres Sohns investiert. Andrea müsste nicht so viel Zeit aufwenden. Sie könnte ihren Sohn theoretisch auch in einem Heim unterbringen. Das stand für sie aber nie zur Debatte, denn sie möchte sich selbst um ihr Kind kümmern. Andrea ist überzeugt, eine Heimunterbringung wäre auch für die Krankenkasse teurer: «Das würde sicher zwischen 10'000 und 15'000 Franken kosten. Diese Kosten würden auch von der Invalidenversicherung oder Krankenkasse getragen. Das heisst, selbst wenn ich pro Monat 3000 Franken für die Pflege erhalte, sparen Staat und Krankenkassen sicherlich Geld.» Für die Zukunft wünscht Andrea nun, dass die Angehörigen besser informiert werden und die Invalidenversicherung oder die Krankenkassen proaktiver auf die Betroffenen zugehen.

Spitex macht auf Angebot aufmerksam

Wie Andrea ergeht es auch anderen Schweizerinnen und Schweizern. Sie erfahren nur zufällig von dem Angebot – oder gar nicht. Die Angehörigenspitex möchte dem entgegenwirken. Deshalb hat sie eine grossangelegte Kampagne gestartet und hat verschiedene Plakate aufgestellt. «Ausser der Angehörigenspitex informiert, nach meinem Kenntnisstand, niemand standardmässig über diese Möglichkeiten», sagt der Leiter Michael Zellweger. Die Angehörigenspitex und ihre Partnerunternehmen möchten Betroffenen die ihnen zustehende Wertschätzung entgegenbringen, so Zellweger. Er sagt: «Wir wollen sie in ein Pflege- und Therapieteam einbinden, um die Pflegequalität zu erhöhen, und ihnen Unterstützung und Ansprechpersonen zur Seite stellen, die rund um die Uhr für sie erreichbar sind.» Aber: Wie sinnvoll ist diese Kampagne in Anbetracht der jetzt schon explodierenden Krankenkassenkosten? Die Anstellung pflegender Angehöriger und deren Ausbildung führe dazu, dass durch die Unterstützung von diplomierten Pflegefachkräften die Anzahl unnötiger Arztbesuche, Notfalleinweisungen, Spital- oder Pflegeheimeintritte verhindert oder verringert werden könne, so Zellweger. «Das gesamte Gesundheitssystem wird somit einer geringeren finanziellen Belastung ausgesetzt.»

Das ist der Ablauf einer Anstellung
 
Der Prozess der Anstellung von pflegenden Angehörigen basiert auf der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) und dem Administrativvertrag zwischen den Spitex-Verbänden (SVS/ASPS) und tarifsuisse AG. Diplomierte Pflegefachkräfte machen eine Bedarfsabklärung für die Bestimmung des Pflegeumfangs, wie sie für alle Spitex-Klientinnen und -Klienten gemacht wird. Dieser Bedarf wird bei den Krankenversicherungen eingereicht und diese prüfen, ob dieser Pflegebedarf gemäss den geltenden Bestimmungen gegeben ist. Die Krankenversicherungen prüfen auch im Speziellen bei beeinträchtigten Kindern, ob unter Berücksichtigung der Leistungen von IV, Hilflosenentschädigung, Intensivpflegezuschlag und Assistenzbeiträgen die Geltendmachung einer Finanzierung des Pflegebedarfs gerechtfertigt ist (IV Rundschreiben Nr. 394 vom 12. Dezember 2019). Eine Überfinanzierung wird so verhindert.

Weiterlesen - ein Beitrag von Juliette Baur erschienen am 09.12.2023

Lebenslange Renten für Verwitwete soll es nicht mehr geben

  • Verwitwete Personen sollen in Zukunft keine lebenslange Rente mehr erhalten.
  • Der Bundesrat hat Gesetzesänderungen in eine Vernehmlassung gegeben, mit denen alle hinterbliebenen Elternteile gleich behandelt werden.
  • Renten erhalten sollen Mütter und Väter mit unterhaltsberechtigten Kindern und alle übrigen während zwei Übergangsjahren.

Der Bundesrat hat Änderungen der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) bis zum 29. März 2024 in die Vernehmlassung geschickt. Er reagiert mit den Vorschlägen auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) und auf gesellschaftliche Entwicklungen.

Bis zum 25. Geburtstag des Kindes

Das System der lebenslangen Renten für Verwitwete entspreche nicht mehr der gesellschaftlichen Realität, schreibt der Bundesrat. Immer mehr Frauen seien erwerbstätig und die Rollen der Eltern seien anders verteilt. Leistungen für hinterbliebene Mütter und Väter sollen neu auf die Betreuungs- und Erziehungszeit ausgerichtet sein.

Ausbezahlt werden sollen sie bis zum 25. Geburtstag des jüngsten Kindes. Wer ein erwachsenes Kind mit Behinderung betreut, soll die Leistungen auch länger erhalten. Die Rente soll unabhängig sein vom Zivilstand. Wer in einer Ehe ohne unterhaltsberechtigte Kinder lebt oder vom geschiedenen Partner Unterhaltsbeiträge erhält, soll nach dem Tod des Partners oder der Partnerin lediglich noch Anspruch auf eine Übergangsrente haben.

Haben die Kinder ihre Ausbildung beendet, könne davon ausgegangen werden, dass der verwitwete Vater oder die verwitwete Mutter je nach Alter in der Lage sei, für sich aufzukommen oder die Lebenshaltung anzupassen, so der Bundesrat weiter. Bei Inkrafttreten der Vorlage sollen über 50-jährige Verwitwete mit Ergänzungsleistungen ihre Renten behalten können.

Verwitwete ab 58 Jahren ohne Kinder, denen durch den Tod ihres Partners oder ihrer Partnerin Armut droht, sollen im Rahmen der Ergänzungsleistungen individuell unterstützt werden. Der Bundesrat begründet dies mit den Schwierigkeiten für Ältere, eine Erwerbsarbeit zu finden oder das Arbeitspensum zu erhöhen.

Renten für junge Verwitwete fallen weg

Zudem sieht der Bundesrat eine Übergangsregelung vor. Demnach sollen laufende Renten bei über 55-jährigen Verwitweten., die keine unterhaltsberechtigten Kinder haben, weiter ausgerichtet werden. Für Jüngere dagegen sollen laufende Renten innerhalb von zwei Jahren ab Inkrafttreten der gesetzlichen Neuerungen aufgehoben werden.

Der Bundesrat reagiert mit der Vorlage auf Kritik des EGMR. Dieser hatte 2022 eine Ungleichbehandlung von Frauen und Männern bei den Hinterlassenenrenten in der Schweiz festgestellt. Zurzeit gilt eine Übergangsregelung, die dafür sorgt, dass der Anspruch auf Witwerrente nicht bei Volljährigkeit des jüngsten Kindes endet.

Doch die Rechtsgleichheit zwischen Witwern und Witwen soll auch Entlastungen bringen. Die Rede ist von rund 720 Millionen Franken Entlastung für die AHV und rund 160 Millionen Franken für den Bund. Treten die Neuerungen 2026 in Kraft, soll das neue System ab 2035 seine volle Wirkung entfalten.

Weiterlesen - ein Beitrag von SRF erschienen am 08.12.2023

Internationales Adoptionsrecht: Bundesrat sieht Handlungsbedarf

Bei internationalen Adoptionen ist es in der Vergangenheit in grösserem Umfang als bisher bekannt zu Unregelmässigkeiten gekommen. Zu diesem Schluss kommt ein Bericht, der im Auftrag des Bundesrats Adoptionen aus insgesamt 10 Herkunftsländern untersuchte. Der Bundesrat hat den Bericht an seiner Sitzung vom 8. Dezember 2023 zur Kenntnis genommen. Er anerkennt und bedauert, dass es die schweizerischen Behörden trotz gewichtiger Hinweise unterlassen hatten, angemessene Massnahmen dagegen zu ergreifen. Um solche Unregelmässigkeiten in Zukunft zu verhindern, braucht es eine Revision des internationalen Adoptionsrechts. Eine unabhängige Expertengruppe wird dem Bundesrat bis Ende 2024 vertiefte Abklärungen vorlegen.

Im Auftrag des Nationalrats hatte der Bundesrat bereits früher die Praxis der privaten Vermittlungsstellen und Behörden bei Adoptionen aus Sri Lanka untersuchen lassen. Sein Bericht «Adoptionen von Kindern aus Sri Lanka in der Schweiz 1973-1997: zur Praxis der privaten Vermittlungsstellen und der Behörden» vom 11. Dezember 2020 hat gezeigt, dass es die Behörden von Bund und Kantonen trotz früher und eindeutiger Hinweise auf Unregelmässigkeiten bei Adoptionsvermittlungen aus Sri Lanka unterlassen hatten, angemessene Massnahmen gegen die Missstände zu ergreifen. Der Bundesrat hat nun einen weiteren Bericht erstellen lassen: «Adoptionen von Kindern aus dem Ausland in der Schweiz, 1970er- bis 1990er-Jahre: Bestandesaufnahme zu Unterlagen im Schweizerischen Bundesarchiv zu zehn Herkunftsländern». Diese zweite Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) kommt zum Schluss, dass es auch hier zu Unregelmässigkeiten gekommen ist.

Unregelmässigkeiten in weiteren Ländern

Die Ergebnisse dieser neuen Studie über Adoptionen aus Bangladesch, Brasilien, Chile, Guatemala, Indien, Kolumbien, Korea, Libanon, Peru und Rumänien hat der Bundesrat am 8. Dezember 2023 zur Kenntnis genommen. Laut der Studie hat es auch in diesen Herkunftsländern Hinweise auf illegale Praktiken, Kinderhandel, gefälschte Dokumente und fehlende Herkunftsangaben gegeben. Die genaue Zahl der Betroffenen lässt sich aufgrund der Aktenlage nicht ermitteln. Die Zahl der erteilten Einreisebewilligungen legt aber nahe, dass mehrere tausend Adoptivkinder im untersuchten Zeitraum von den Unregelmässigkeiten betroffen sein könnten.

Bundesrat spricht Betroffenen sein Bedauern aus

Der Bundesrat anerkennt die Unregelmässigkeiten bei den internationalen Adoptionen und bedauert, dass die Behörden ihre Verantwortung gegenüber den Kindern und ihren Familien nur unzureichend wahrgenommen haben. Diese Versäumnisse der Behörden prägen das Leben der damals adoptierten Personen bis heute. Es liegt in der Verantwortung der Kantone, die Betroffenen bei ihrer Herkunftssuche zu unterstützen. Ein am 15. November 2023 veröffentlichter Bericht im Auftrag der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) formuliert konkrete Empfehlungen, wie die unterschiedlichen Zuständigkeiten gebündelt und die Betroffenen bei der Herkunftssuche besser unterstützt werden können. Der Bund will die Kantone bei einer Lösungsfindung begleiten. Um das weitere Vorgehen zu diskutieren, treffen sich auf Einladung von Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider Vertreterinnen und Vertreter des Bundes und der Kantone voraussichtlich in der ersten Hälfte 2024 zu einem Austausch.

Revision des internationalen Adoptionsrechts soll Missbräuche verhindern

Für den Bundesrat ist klar: solche Unregelmässigkeiten darf es nicht mehr geben. Auch wenn Bund und Kantone bereits viel getan haben, um die Praxis der internationalen Adoptionen transparenter und sicherer zu machen, kommt eine unabhängige Expertengruppe im Auftrag des Bundes in einem Zwischenbericht zum Schluss, dass mit einer Revision des internationalen Adoptionsrechts das Missbrauchspotential in Zukunft entscheidend gesenkt werden könnte. Der Bundesrat hat den Zwischenbericht zur Kenntnis genommen und die Expertengruppe beauftragt, ihm bis Ende 2024 vertiefte Abklärungen für eine Revision vorzulegen.

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