Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt: Vorschläge an die Schweiz zur Umsetzung der Istanbul-Konvention veröffentlicht

Wie gut bekämpft und verhütet die Schweiz Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt? Die internationale Expertinnen- und Expertengruppe des Europarats (GREVIO) hat die Umsetzung der Istanbul-Konvention in der Schweiz überprüft und ihre Vorschläge in einem Bericht publiziert. Zeitgleich wurde der Kommentar des Bundesrats veröffentlicht, den er an seiner Sitzung vom 2. November 2022 verabschiedet hat.

Der Bericht begrüsst die Vielzahl der Massnahmen der Schweiz und die bestehenden gesetzlichen Grundlagen zum Schutz von Gewaltbetroffenen. Als Beispiel nennt er das Opferhilfegesetz, das die Basis für die kantonalen Opferhilfestellen bildet. Die Expertinnen und Experten loben auch die gute Zusammenarbeit von Bund, Kantonen und Gemeinden.

Bundesrat kommentiert Vorschläge des Europarats

Der Bericht enthält Vorschläge an die Schweiz, welche die Bundes- und Kantonsbehörden geprüft und kommentiert haben. So wird unter anderem vorgeschlagen, dass die Schweiz ihr Engagement zur Bekämpfung von Gewalt im häuslichen Bereich auch auf andere Formen von Gewalt gegen Frauen ausweitet. Hier weist der Bundesrat darauf hin, dass er geschlechtsspezifische Gewalt stärker in den Fokus rückt, etwa im Nationalen Aktionsplan zur Istanbul-Konvention (NAP IK) oder in der Gleichstellungsstrategie 2030. Frauen und Mädchen haben ein höheres Risiko, bestimmte Gewaltformen (z.B. sexualisierte Gewalt) zu erleben. Diese Gewalt kann innerhalb der Familie, aber auch bei der Arbeit oder im öffentlichen Raum stattfinden.

Die Schweiz soll zudem Studien durchführen, um mehr Daten über die verschiedenen Formen von Gewalt zu haben. Hier verweist der Bundesrat auf die von ihm bereits genehmigte Bevölkerungsbefragung über Gewalterfahrungen, deren Finanzierung vom Parlament noch bewilligt werden muss. Ausserdem enthält der Bericht konkrete Vorschläge, wie Kinder, die von häuslicher Gewalt mitbetroffen sind, noch besser geschützt werden können. Der Bundesrat verweist hier auf den von der Schweizerischen Konferenz gegen häusliche Gewalt SKHG mit Unterstützung des Bundes veröffentlichten Leitfaden «Kontakt nach häuslicher Gewalt?». Dieser zeigt Richterinnen und Richtern sowie anderen Fachpersonen auf, wie Entscheidungen im Interesse des Kindes getroffen werden können.

Prävention und Bekämpfung von Gewalt ein zentrales Ziel des Bundesrats

Der Bundesrat setzt sich dafür ein, dass die Ziele der Istanbul-Konvention konsequent durchgesetzt werden. Im Juni 2022 verabschiedete er den NAP IK mit 44 Massnahmen. Auch in der Gleichstellungsstrategie 2030, die er im April 2021 verabschiedet hat, ist die Prävention und Bekämpfung von Gewalt ein zentrales Ziel. Zudem verweist der Bundesrat auf die im April 2021 von Bund und Kantonen vereinbarte Roadmap häusliche Gewalt: Im Zentrum stehen dabei die Stärkung des Bedrohungsmanagements oder ein leichterer Zugang zur Opferberatung via eine zentrale, nationale 24h-Beratungstelefonnummer.

Istanbul-Konvention seit 1. April 2018 in Kraft

Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, die Istanbul-Konvention (IK), ist in der Schweiz am 1. April 2018 in Kraft getreten. Eine unabhängige Expertinnen- und Expertengruppe (GREVIO) überwacht die Umsetzung der IK. Der erste Staatenbericht zur Umsetzung der IK, der im Juni 2021 veröffentlicht wurde, sowie der Besuch einer GREVIO-Delegation in der Schweiz im Februar 2022 dienten als Grundlage für den aktuellen Evaluationsbericht, den der Bundesrat zur Kenntnis genommen hat. In voraussichtlich drei Jahren wird die Schweiz einen zweiten Bericht publizieren.

Bericht (englisch)

Testament und Erbvertrag: Das ändert sich mit dem neuen Erbrecht 2023

Seinen Kindern will man etwas hinterlassen. Doch wer seinen Nachlass bereits vertraglich geregelt hat, sollte nochmals über die Bücher gehen. Der «Beobachter» zeigt auf, was man bezüglich des neuen Erbrechtes beachten sollte. Am 1. Januar 2023 tritt das revidierte Erbrecht in Kraft. Was ab dann gilt – und was man jetzt schon neu regeln kann.

Was ändert sich bei den Pflichtteilen?

Das wird neu: Die Pflichtteile der Eltern fallen weg, diejenigen der Kinder schrumpfen. Neu haben nur noch die eigenen Nachkommen und Ehegatten Anspruch auf einen Mindestanteil am Erbe. Der Pflichtteil beträgt neu für Ehegatten wie auch für Nachkommen die Hälfte des gesetzlichen Erbteils. Für Ehegatten bleibt somit alles beim Alten. Die eigenen Kinder haben nur noch Anspruch auf mindestens die Hälfte des gesamten Erbes, wenn die Erblasserin nicht verheiratet ist. Und auf ein Viertel, wenn es einen Ehegatten gibt. Das können Sie anpassen: Sie können mindestens die Hälfte Ihres Nachlasses so verteilen, wie Sie möchten. Wenn Sie weder verheiratet sind noch Kinder haben, sind Sie vollkommen frei. Wenn Sie etwa Ihre Eltern im Testament nicht mehr berücksichtigen möchten, können Sie ihren Anteil streichen.

Sind Schenkungen noch erlaubt?

Das wird neu: Schenkungen sind nach Abschluss eines Erbvertrags nach neuem Recht nur noch eingeschränkt möglich. Gelegenheitsgeschenke wie ein Batzen zum Geburtstag der Tochter oder ein Gutschein zur Hochzeit des Neffen sind weiterhin erlaubt. Darüber hinausgehende Geschenke wie der Anteil an einer Liegenschaft oder die Beteiligung an einer Firma können neu angefochten werden, wenn solche Schenkungen im Erbvertrag nicht erwähnt sind. Das können Sie anpassen: Wenn Sie trotz bestehendem Erbvertrag weiterhin andere beschenken möchten, müssen Sie den Erbvertrag unbedingt anpassen und ergänzen. Am besten halten Sie explizit fest, ob und in welcher Höhe Sie Geschenke machen dürfen. Achtung: Es müssen alle Parteien mit den Neuerungen einverstanden sein. Wenn eine bereits verstorben ist, ist eine Änderung nicht mehr möglich.

Wie ist die Nutzniessung geregelt?

Das wird neu: Dem Ehegatten oder der eingetragenen Partnerin kann man die Hälfte des Nachlasses als Eigentum und die andere Hälfte zur Nutzniessung zuteilen (bisher ein Viertel und drei Viertel). Sollte der überlebende Ehegatte oder die überlebende eingetragene Partnerin erneut heiraten, entfällt von Gesetzes wegen die Nutzniessung am Erbanteil der Kinder. Diese können dann damit tun, was sie möchten. Achtung: Diese Möglichkeit haben Sie nur bei gemeinsamen (Adoptiv-)Kindern, nicht aber zum Beispiel bei Stiefkindern. Das können Sie anpassen: Wenn Sie den Ehegatten oder die eingetragene Partnerin nach altem Recht berücksichtigt haben und sie nun stärker begünstigen möchten, indem Sie ihm oder ihr die Hälfte des Nachlasses als Eigentum und die andere Hälfte zur Nutzniessung zusprechen, formulieren Sie Ihren Wunsch im Testament so genau wie möglich und verweisen nicht nur auf Artikel 473 des Zivilgesetzbuchs.

Was geschieht bei Tod während des Scheidungsverfahrens?

Das können Sie anpassen: Weil nur der Pflichtteil wegfällt, nicht aber der gesetzliche Erbteil, können Sie bestimmen, dass der Noch-Ehegatte oder die eingetragene Partnerin schon während des Scheidungsverfahrens ab 2023 auch den gesetzlichen Erbteil nicht erhalten soll. Das müssen Sie aber zwingend so im Testament festhalten.
Was passiert mit dem Testament, das schon geschrieben ist? Das wird neu: Bei Todesfällen vor dem 1. Januar 2023 gilt noch das alte Erbrecht. Danach aber das neue – auch für bereits bestehende Testamente. Wenn also zum Beispiel von Pflichtteilen die Rede ist, kommt automatisch die neue Regelung zur Anwendung. Das können Sie anpassen: Prüfen Sie, ob Ihr Testament auch mit den neuen Regelungen für Sie noch in Ordnung ist oder ob Sie es ergänzen oder ein neues aufsetzen wollen. Beides müssen Sie vollständig handschriftlich machen und das Testament mit Datum und Unterschrift versehen. Sie können im ergänzten oder neuen Testament alle vorherigen Testamente widerrufen. Erbverträge können Sie beim Notariat abändern lassen, wenn alle Vertragsparteien einverstanden sind. Formulieren Sie Ihre Wünsche so genau wie möglich, verlassen Sie sich nicht nur auf Begriffe wie «Pflichtteil» oder «verfügbare Quote».

Gesetzliche Erbfolge und Pflichtteil

Gesetzliche Erbfolge: Wenn Verstorbene weder ein Testament noch einen Erbvertrag hinterlassen, wird der Nachlass so verteilt, wie es das Gesetz bestimmt. Eine Tochter und eine Ehefrau etwa erhalten gemäss Gesetz je die Hälfte. Das bleibt auch nach dem 1. Januar 2023 so. Pflichtteil: Testament oder Erbvertrag können von der gesetzlichen Erbfolge abweichen. Aber: Bestimmte direkte Angehörige erben in jedem Fall. Sie haben das Recht auf den Pflichtteil, einen vom Gesetz festgelegten Bruchteil des Nachlasses, der ohne Enterbungsgrund nicht geschmälert oder entzogen werden kann. Ab dem 1. Januar 2023 kann man den Pflichtteil der Kinder auf maximal ein Viertel kürzen.

Weiterlesen - ein Beitrag von Julia Gubler («Beobachter») erschienen am 12.11.2022 auf www.blick.ch

Bundesrätinnen mit Kindern - Was müsste sich ändern, damit Kinder kein Thema sind?

Noch nie gab es in der Schweiz eine Mutter mit jungen Kinder in der Landesregierung. Dies könnte sich bald ändern. Mit der 44-jährigen Evi Allemann von der SP kandidiert eine Frau für die Nachfolge von Simonetta Sommaruga, die zwei Kinder im Alter von sieben und zwölf Jahren hat. Warum reden wir in der Schweiz überhaupt über Mütter, die mit jungen Kindern in den Bundesrat wollen? Eine Spurensuche.

Ein Blick in die Vergangenheit

Sieht man sich die bisherigen Bundesrätinnen an, fällt auf, dass sechs von bisher neun Magistratinnen gar keine Kinder hatten. Bei den dreien, die Kinder hatten, waren sie schon erwachsen, als die Politikerinnen das Amt antraten. Fakt ist, dass selbst amtierende kinderlose Bundesrätinnen betonen, dass eine solche Karriere mit Kindern nicht möglich gewesen wäre. So sorgte etwa Karin Keller-Sutter mit einer Aussage im September 2019 für Kontroversen, als sie sich gegen eine Elternzeit aussprach. Sie meinte damals: «Man kann nicht alles haben. Drei Kinder, ein Verwaltungsratsmandat und eine politische Karriere. Man kann sich auch selbst überfordern.» Doch wieso ist es im Ausland möglich und nicht in der Schweiz? Premierministerinnen wie die Jacinda Ardern in Neuseeland, Giorgia Meloni in Italien oder Sanna Marin in Finnland zeigen, dass es doch machbar ist.

Familienleben, Arbeitszeit und Akzeptanz

Die Politologin Martina Mousson vom Forschungsinstitut gfs Bern identifiziert mehrere Problemfelder. Zum Teil gehe es von den Frauen selbst aus. Nicht wenige diskutierte Kandidatinnen begründeten eine Absage mit dem Familienleben. «Der Bundesratsjob ist ein 24/7-Job, das sagen auch alle amtierenden Bundesräte und Bundesrätinnen.» Und Voten von Bundesrätinnen wie Karin Keller-Sutter könnten auch abschreckend wirken. Die Strukturen des Bundesratsamtes seien nicht auf Teilzeit oder fixe Arbeitszeiten angelegt, sagt Mousson weiter. In Finnland sei das anders. Dort sei es breit akzeptiert, dass man um 16 Uhr Feierabend mache, weil man die Kinder holen muss. «Man muss gewisse Kämpfe nicht mehr führen, weil es eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit ist.» Und auch die Kinderbetreuung sei anders organisiert – namentlich staatlich, wobei es auch abends Betreuungsangebote gebe. «Das fehlt in der Schweiz gänzlich.» Teil des Problems sei auch die gesellschaftliche Akzeptanz, so Mousson weiter. Es stosse auf Kritik, wenn eine Mutter soviel arbeite, und ihre Kinder beispielsweise durch den Partner oder eine andere Person mitbetreuen lässt. Zudem würden Frauen so aufs Muttersein reduziert und ihnen andere Kompetenzen abgesprochen.

Beim Männern alles kein Problem

Eva Herzog, eine andere SP-Kandidatin, drückte es an ihrer Medienkonferenz wie folgt aus: «Wir arbeiten alle auf die Zeit hin, wo das keine Rolle mehr spielt. Wenn ich mir die ganze Diskussion anschaue, dann habe ich den Eindruck, dass bei Frauen andere Kriterien gelten. Manchmal sind sie zu jung, dann haben sie zu kleine Kinder oder dann sind sie zu alt. Und bei den Männern werden diese Fragen einfach nicht gestellt.» Ganz im Gegensatz zu Männern, die sich solchen Fragen nie öffentlich zu stellen brauchen. Als Alain Berset Bundesrat wurde, waren seine Kinder zwischen fünf und neun Jahre alt. Bundesrat Ueli Maurer hatte Teenager-Kinder, als er gewählt wurde. Das Familienleben war damals kein Thema. «Das zeigt, wie die Realität dem gesellschaftlichen Diskurs hinterherhinkt», stellt Mousson fest. Es fehle zudem an Vorbildnern im Bundesrat, deshalb sei die jetzige Diskussion auch eine Chance, denn eine Bundesrätin mit jungen Kindern «wird immer noch als Novum oder Sonderereignis taxiert». Die Privatwirtschaft sei da schon etwas weiter, denn es gebe immer mehr Frauen in der Wirtschaft, die sich hohe Pensen zutrauten und mit der Familie in Einklang bringen würden.

Welche Rahmenbedingungen braucht es?

«Wir stecken da irgendwo mitten drin», sagt die Politologin Martina Mousson. Es sei viel in die Kinderbetreuung investiert worden, «Kitaplätze waren eine Zeit lang äusserst knapp vorhanden. Das ist heute nicht mehr unbedingt der Fall». Aber wieso sollte man nicht über eine Kita für den Bundesrat nachdenken, die auf seine Bedürfnisse zugeschnitten ist, quasi mit Notfall- und Krankheitsbetreuung? Die anderen Elternteile hätten zudem auch eine Entwicklung durchgemacht. Das siehe man etwa an den Absagen von Männern, auch mit der Begründung, sie möchten das nicht, solange ihre Kinder so klein sind, fügt Mousson hinzu. Dann gebe es noch einen Vorschlag von Cédric Wermuth, dass man die Verwaltung, den Bundesrat als Ganzes reformiere, die Departements kleiner mache, damit die Pensen auch etwas geringer seien. «Es gibt ganz viele Hebel, wo man ansetzen könnte.»

Weiterlesen - ein Beitrag erschienen am 11.11.2022 auf www.srf.ch

Gewalt in der Erziehung

Eine neue Befragung der Universität Fribourg schockiert: Oft wenden Eltern bei der Erziehung körperliche oder psychische Gewalt an. Im Club spricht Barbara Lüthi mit Betroffenen und Experten.

Wenn das Kind einen an die Grenzen bringt

Liedermacher Linard Bardill erzählt von einer realen Situation: Der Bub tritt in die Pfütze, nachdem ihm der Vater ebendies untersagt hat. Kind und Vater werden nass. Im Affekt kassiert der Junge eine Ohrfeige. «Ich wollte ihm sagen: Die Grenze ist hier erreicht, ich will keine nassen Hosen», sagt Bardill. «Der Bub hat ein Bedürfnis und ich möchte Grenzen setzen. Doch wie setze ich Grenzen, ohne dass es knallt?» Für den Soziologen Dirk Baier ist klar: «Reden Sie mit Ihrem Kind und erklären Sie Ihre Grenze verbal. Grenzen müssten kommuniziert werden – und zwar so, dass sie das Kind auch verstehen kann. Nach einer Ohrfeige weiss ein Kind gar nicht, was die Grenze ist. Ist es, in die Pfütze zu springen oder dass die Hosen des Vaters nass werden?», fragt Baier, und ergänzt: «Vernunft kann man nicht einprügeln.» Die Idee, dass man eine Grenze verdeutlichen kann, indem man jemanden schlägt, sei völlig absurd.

Wenn das Kind schlechte Noten heimbringt

Für viele eine bekannte Szene: Mutter und Sohn brüten über der Mathematikaufgabe. Solange, bis einer weint. «Besonders in unserer Hochleistungsgesellschaft kommen Kinder zunehmend unter Druck», sagt Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm. Wenn Kinder nicht abliefern, kann es zu Erniedrigung und Beleidigungen kommen. Die Folgen davon seien fatal, sagt Sozialpädagogin Gabriela Kaiser: «Das Kind suche den Fehler bei sich, leide unter vermindertem Selbstwertgefühl und ähnlichen Folgen wie bei körperlicher Gewalt.» Davon berichtet auch Rapper Andres Andrekson alias Stress: Als er einmal die Hausaufgaben nicht verstanden hatte, drohte seine Mutter, aus dem Fenster zu springen.  Die Kindheit des Rappers war geprägt von Gewalt. «Mein Vater schlug mich fast tot als ich eineinhalb Jahre alt war.» Auch seine Mutter und die Lehrer haben ihn verprügelt: «In der Sowjetunion, in der ich aufgewachsen bin, haben die Eltern einander und die Kinder geschlagen. Gewalt war einfach überall.» Viele Eltern üben dann Gewalt aus, wenn sie gestresst sind. Aber: «Einen Stressauslöser wird es immer geben», sagt Baier. Die Aufgabe der Eltern sei es, mit dem eigenen, aber auch mit dem Stress der Kinder umgehen zu lernen. «Lernen kann man das etwa in Elternkursen», sagt Gabriela Kaiser, die auch Eltern begleitet. Kantone und Gemeinden bieten zahlreiche kostenlose Angebote an.

Wenn das Kind nicht Klavier üben will

Ein Beispiel von Dirk Baier: Das Kind soll einmal pro Woche Klavier üben, darf aber selbst aussuchen, wann. Was aber, wenn das Mädchen nicht übt? Konsistenz und Hartnäckigkeit seien hier gefragt, so Baier. Man müsse das Mädchen daran erinnern und nachfragen, ob es gespielt hätte. Dabei dürften Eltern eine starke Haltung gegenüber dem Kind einnehmen, sagt Kaiser. «Autorität ist heute ein böses Wort geworden», meint Stamm: «Wir leben heute nicht mehr in einem Befehls-, sondern in einem Verhandlungshaushalt.» Das ständige Verhandeln kann Eltern an den Anschlag bringen. Auch die Erziehungswissenschaftlerin kam schon mal an den Anschlag und hat ihre zwei Kinder geohrfeigt: «Das war furchtbar für mich.» Der beste Erziehungsstil sei der autoritative: «Eine Mischung aus konstanter und klarer Autorität mit klar kommunizierten Regeln – aber auch Liebe und Zuneigung», sagt Baier. Daran erinnert sich auch Bardill, wenn es wieder mal zu eskalieren droht. Der Vater von fünf Kindern setzt sich seit Jahren für eine gewaltfreie Erziehung ein. 

Handlungsalternativen zur Gewalt

Der Kinderschutz Schweiz zeigt viele Alternativen zur Gewalt gegenüber Kindern auf. Folgende sind eine kleine Auswahl.

  • Eine Auszeit nehmen
  • Einen Rückzugsort schaffen
  • Über die Situation sprechen
  • Sport treiben, um dem Alltag zu entfliehen
  • An die frische Luft gehen

Weiterlesen - ein Beitrag von erschienen am 03.11.2022 auf www.srf.ch

Frauenrechtskonvention CEDAW: UNO richtet Empfehlungen an die Schweiz

Der zuständige Fachausschuss der Vereinten Nationen hat heute rund 70 Empfehlungen zur Umsetzung des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) an die Schweiz veröffentlicht. Die Handlungsempfehlungen fordern die Sicherstellung der Gleichstellungsarbeit in den Kantonen, die Verstärkung der Massnahmen für die Lohngleichheit oder die Anpassung des Straftatbestands der Vergewaltigung.

Zum vierten Mal seit 2001 hat der zuständige UNO-Fachausschuss die Umsetzung des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) in der Schweiz überprüft. Nachdem die Schweiz am 21. Oktober 2022 dem Ausschuss in Genf Fortschritte und Herausforderungen im Kampf gegen die Diskriminierung der Frau vorgestellt hat, veröffentlichte dieser heute rund 70 Handlungsempfehlungen an die Adresse der Schweiz.

UNO begrüsst Fortschritte

Die UNO begrüsst die durch Gesetzesreformen erzielten Fortschritte im Bereich der Gleichstellung, zum Beispiel die 2020 erfolgte Reform des Gleichstellungsgesetzes oder der Beschluss zur gleichgeschlechtlichen Ehe. Im Bericht werden auch weitere Massnahmen zur Förderung der Gleichstellung gewürdigt, insbesondere die Gleichstellungsstrategie 2030 und der Aktionsplan zur Umsetzung der Istanbul-Konvention.

Demgegenüber sieht die UNO die Schweiz in der Verantwortung, Gleichstellungsfachstellen auf kantonaler Ebene zu stärken. Jeder Kanton solle über ein Gleichstellungsbüro verfügen. Weiter sieht die UNO Handlungsbedarf im Bereich der Lohnungleichheit: Es sei zwar zu begrüssen, dass Unternehmen mit 100 oder mehr Mitarbeitenden Lohngleichheitsanalysen durchführen müssten, davon seien aber die Mehrzahl der Unternehmen in der Schweiz, die KMUs, nicht betroffen. Die UNO empfiehlt daher regelmässige Lohngleichheitsanalysen für alle Arbeitgebenden unabhängig ihrer Grösse. Die Schweiz wird in diesem Zusammenhang vom Ausschuss aufgefordert, die wirtschaftliche Autonomie von Frauen weiter zu stärken, um Altersarmut von Frauen zu verhindern. Kritisch beurteilt die UNO auch die starken kantonalen Unterschiede bei den Verurteilungsraten wegen Vergewaltigung und empfiehlt, eine Analyse durchzuführen, um die Gründe zu ermitteln und entsprechende Massnahmen zu ergreifen. Der Ausschuss fordert die Schweiz zudem auf, den Tatbestand der Vergewaltigung anhand der fehlenden Zustimmung des Opfers zu definieren, um so internationalen Standards gerecht zu werden. Die Änderung des Sexualstrafrechts befindet sich derzeit in parlamentarischer Verhandlung.

Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) wird die Empfehlungen gemeinsam mit betroffenen Bundestellen und Kantonen analysieren und die Zuständigkeiten klären. Ein Zwischenbericht über die Fortschritte zu einzelnen Empfehlungen ist in zwei Jahren fällig.

Im Jahr 1997 hat die Schweiz das UNO-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) ratifiziert. Seither erstattet sie dem CEDAW-Ausschuss regelmässig Bericht über den Umsetzungsstand des Übereinkommens in der Schweiz. Die „Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women (CEDAW)" gehört zu den Kernabkommen des internationalen Menschenrechtsschutzes und ist das wichtigste Menschenrechtsinstrument für Frauen. Gegenwärtig gehören dem Abkommen 189 von 193 Mitgliedsländern an.

Weiterlesen

Immer mehr Menschen ohne Freunde – Experten zeigen sich besorgt

Fehlende Work-Life-Balance und Digitalisierung: Experten erklären, wieso es immer mehr Menschen ohne Freunde gibt. Eine Studie zeigt: Jeder siebte Amerikaner und jede zehnte Amerikanerin hat keine Freunde. Auch in der Schweiz gibt es Betroffene.

Fast 40 Prozent der Bevölkerung fühlen sich einsam

«Ich habe eigentlich auch keine Freunde», sagt Kim (27) aus Zürich. Gründe dafür sieht er in seinem Beruf: «Ich arbeite im Gastgewerbe und habe keine normalen Arbeitszeiten.» Freundschaften zu pflegen, sei für ihn deshalb schwierig. «Man gewöhnt sich aber daran und lernt, damit umzugehen», so Kim. Psychologe Felix Hof betreut regelmässig Betroffene in seiner Praxis in Zürich: «Viele meiner Patientinnen und Patienten sagen von sich selbst, dass sie keine Freunde haben.» Grundsätzlich seien Personen beider Geschlechter und aller sozialen Schichten betroffen. Der Schwerpunkt beim Alter liege bei jungen Erwachsenen zwischen 18 und 27 Jahren und Personen über 45 Jahren. In der Schweiz gaben 2017 laut einer Erhebung des Bundesamts für Statistik (BFS) 38 Prozent der Wohnbevölkerung ab 15 Jahren an, einsam zu sein.

Fehlende Work-Life-Balance und Digitalisierung

Laut Psychologe Thomas Spielmann spielt die Digitalisierung eine wichtige Rolle: «Hier fehlen Mimik, Gestik, Geruch und Ton. Kontakte bleiben oberflächlich.» Wer sich zu stark in der digitalen Welt bewege, verlerne den Umgang mit anderen Menschen. «Man erkennt nicht mehr die Gefühle von anderen, sondern konzentriert sich auf die eigenen. Die Gefahr, dass man dann ohne Freunde bleibt, ist gross», sagt Spielmann. Ähnlich sieht es Hof: «Fiktive Beziehungen kann man zwar auf Social Media intensiv pflegen, sie können aber niemals die zwischenmenschlichen Beziehungen im echten Leben ersetzen.» Die Einsamkeit fördern könne auch eine fehlende Work-Life-Balance in der aktuellen Leistungsgesellschaft: «Wer sich nur noch aufs Arbeiten konzentriert, merkt oft gar nicht, wie er oder sie sein soziales Umfeld verliert – bis zur schmerzhaften Erkenntnis, dass man niemanden hat, den man am Wochenende treffen kann.» Ebenso habe die Pandemie das Problem der Einsamkeit verstärkt: «Insbesondere Jugendliche konnten durch Homeschooling nur sehr begrenzt Beziehungen einüben und wissen jetzt nicht, wie sie auf andere Personen zugehen sollen.» Für Soziologin Katja Rost spielen auch Veränderungen in der modernen Gesellschaft eine tragende Rolle: «Es ist ein Trend in den westlichen Gesellschaften, dass das soziale Kapital, also der Grad des gemeinschaftlichen Zusammenhalts, abnimmt.» Ein Grund liege in der Urbanisierung: «Viele Menschen ziehen in die Stadt. Dort ist es aufgrund der Anonymität schwieriger, Kontakte zu knüpfen.»

Keine Freunde sind schädlich für die Psyche

Gemäss Hof ist der Mensch ein sehr soziales Wesen, das auf zwischenmenschliche Beziehungen angewiesen ist. «In unserer Kindheit sind wir auf unsere Eltern fokussiert: Sie geben uns Rückhalt, Orientierung und versorgen uns mit Nahrung, Wärme und Zuneigung. Später sind es Freundschaften, die uns Gefühle von Bestätigung, Wertschätzung und Liebe vermitteln», so Hof. Diese Gefühle nicht zu erfahren, sei schädlich für die Psyche und führe zu Traurigkeit, Verzweiflung oder Depression. Laut Psychologe Thomas Spielmann ist sozialer Kontakt essentiell, die tatsächliche Anzahl an Freunden sei aber individuell. «Erfahrungswerte zeigen, dass zwei bis drei stabile Beziehungen bereits ausreichen, um sich nicht einsam zu fühlen», so Spielmann. 

Experten zeigen sich besorgt

Laut Hof werden die nächsten 10 bis 15 Jahre für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft entscheidend sein: «Wenn wir das Problem mit der Einsamkeit nicht angehen und in den Griff kriegen, ist es gut möglich, dass das Gesundheitssystem strapaziert wird und schliesslich die Wirtschaft extrem darunter leidet, weil die Produktivität einbricht», sagt Hof. Rost sieht auch eine Gefahr für die Demokratie, die eine Partizipation verlangt: «Mit jeder Person, die sich dieser entzieht, sinkt der soziale Zusammenhalt, was die Erosion demokratischer Strukturen zur Folge hat.» Zudem sehnen sich gemäss Rost einsame Personen nach Zugehörigkeit: «Dabei finden sie oft - beispielsweise im Internet - Anschluss bei extremistischen Bewegungen.»

Weiterlesen - ein Beitrag von Tim Haag und Thomas Obrecht erschienen am 28.10.2022 auf www.20min.ch