Die Lage auf dem Wohnungsmarkt spitzt sich zu. In naher Zukunft werden Hunderttausende Wohnungen fehlen. Das Problem: Die Bautätigkeit hinkt hinterher.
Der Wohnungsmarkt ist zunehmend unter Druck – in Städten wie Zürich spitzt sich die Situation zu. In der Region Zürich kann mit einer Leerwohnungsziffer von 0,7 Prozent von Wohnungsnot gesprochen werden. Die Folge: Das Angebot an Mietwohnungen ist so knapp, dass die Mieten ins Unermessliche steigen. Zum Vergleich: In der Schweiz beträgt die Leerwohnungsziffer im Durchschnitt 1,15 Prozent. Alles unter 1 Prozent gleicht einem Wohnungsmangel und hat zur Folge, dass die Wohnungssuche für Mieterinnen und Mieter schwierig wird.
Bautätigkeit kann nicht Schritt halten
In einer Gesprächsrunde des Immobilienportals Newhome hat Stefan Fahrländer (54) vom Beratungsunternehmen Fahrländer Partner die aktuelle Lage analysiert. Bis ins Jahr 2040 prognostiziert das Beratungsunternehmen eine Zusatznachfrage nach insgesamt 522'323 Wohnungen in der Stadt Zürich. Das Problem: Die Bautätigkeit hinkt hinterher. «Wir haben in erster Linie ein Verteilungsproblem», sagt er. «Auf der einen Seite haben wir eine sehr starke Nachfrage nach Wohnungen und auf der anderen Seite eine Bautätigkeit, die damit nicht Schritt halten kann.»
Mittelstand wird verdrängt
Die Auswirkungen sind verheerend: Die Preise für ein Mehrfamilienhaus in der Region Zürich sind zwischen den Jahren 2000 und 2021 um 167 Prozent gestiegen. Das wirkt sich direkt auf die Mieten aus und führt dazu, dass sich nicht nur Geringverdiener, sondern zunehmend auch der Mittelstand eine Wohnung in der Stadt nicht mehr leisten kann. Die Situation in der Stadt Zürich verschärft sich laut Fahrländer zusätzlich durch regulatorische und politische Risiken, die Bauvorhaben erschweren. Fahrländers Fazit: Nur wenn in naher Zukunft neuer Wohnraum geschaffen werden, könne sich die Situation entschärfen. Dazu brauche es neben verfügbaren Grundstücken flüssige und verbindliche Bewilligungsprozesse sowie verlässliche Regeln. Fahrländer sieht die Politik gefordert, um die Rahmenbedingungen entsprechend anzupassen.
Weiterlesen - ein Beitrag von Dorothea Vollenweider erschienen am 23.04.24 auf blick.ch
Der Kanton Genf kann vorerst keine Elternschaftsversicherung einführen, die eine Versicherung für den Vater, die Partnerin der Mutter oder den Partner des Vaters umfasst. Eine solche Bestimmung in der Genfer Kantonsverfassung ist nicht mit geltendem Bundesrecht vereinbar. Der Bundesrat beantragt deshalb in seiner am 22. Mai 2024 verabschiedeten Botschaft dem Parlament, diesen Teil der Elternschaftsversicherung nicht zu gewährleisten. Derweil hat der Bundesrat eine Gesetzesänderung vorgeschlagen, die eine umfassende kantonale Elternschaftsversicherung künftig erlauben würde.
Am 18. Juni 2023 hat die Genfer Stimmbevölkerung die Initiative für eine 24-wöchige Elternschaftsversicherung angenommen. Konkret wird die bestehende 16-wöchige kantonale Mutterschaftsversicherung um acht Wochen zugunsten des Vaters, der Partnerin der Mutter oder des Partners des Vaters ergänzt. Sowohl die Mutterschaftsversicherung als auch die neue Versicherung sollen durch paritätische Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmenden finanziert werden.
Die neue Bestimmung in der Genfer Kantonsverfassung ist nicht mit geltendem Bundesrecht vereinbar. Im Gegensatz zur Mutterschaftsversicherung haben die Kantone heute in diesem Bereich nicht die Kompetenz, eine Versicherung einzuführen, die durch paritätische Beiträge finanziert wird. Der Bundesrat beantragt deshalb in seiner am 22. Mai 2024 verabschiedeten Botschaft dem Parlament, diesen Teil der geänderten Kantonsverfassung nicht zu gewährleisten. Die Bestimmungen zur 16-wöchigen Mutterschaftsversicherung sind hingegen bundesrechtskonform und können gewährleistet werden.
Künftig könnte es den Kantonen jedoch möglich sein, eine Elternschaftsversicherung einzuführen. Der Bundesrat hat eine entsprechende Änderung des Bundesgesetzes über den Erwerbsersatz (EOG) in die Vernehmlassung gegeben. Falls das EOG dereinst in diesem Sinne geändert würde, wird der Bundesrat in einer zukünftigen Botschaft die Gewährleistung der umfassenden Genfer Elternschaftsversicherung beantragen.
Neben der Elternschaftsversicherung wurde die Genfer Kantonsverfassung in zwei weiteren Punkten geändert. Diese betreffen das Recht auf digitale Integrität und das Recht auf Ernährung. Diese beiden Änderungen sind bundesrechtskonform; der Bundesrat beantragt dem Parlament daher, sie zu gewährleisten.
Gewährleistung weiterer Kantonsverfassungen
Des Weiteren beantragt der Bundesrat dem Parlament, auch die geänderten Verfassungen der Kantone Bern, Waadt und Jura zu gewährleisten. Diese Verfassungsänderungen stimmen mit dem Bundesrecht überein und haben die folgenden Änderungen zum Gegenstand:
im Kanton Bern:
die Schuldenbremsen;
im Kanton Waadt:
den Klimaschutz;
im Kanton Jura:
die Amtsenthebung von kantonalen und kommunalen Behördenmitgliedern.
Künftig sollen Solidaritätsbeiträge des Bundes, der Kantone und der Gemeinden zugunsten von Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen alle gleichbehandelt werden. Der Bundesrat unterstützt in seiner Stellungnahme vom 22. Mai 2024 den Vorschlag der Rechtskommission des Nationalrates (RK-N) für eine entsprechende Änderung des Bundesgesetzes über die Aufarbeitung fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFG).
Bis 1981 waren in der Schweiz zehntausende Kinder und Erwachsene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen betroffen. Ein Grossteil von ihnen hat darunter schwer gelitten. Als Grundlage für eine umfassende Aufarbeitung wurde das Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFG) erlassen. Es schafft gleichzeitig eine Grundlage für die Anerkennung und Wiedergutmachung des Unrechts, das den Opfern zugefügt wurde.
Als Geste der Wiedergutmachung sieht das AFZFG einen Solidaritätsbeitrag des Bundes in der Höhe von 25 000 Franken pro Opfer vor. Dieser ist in steuer-, schuldbetreibungs-, sozialversicherungs- und sozialhilferechtlicher Hinsicht privilegiert zu behandeln.
Keine finanziellen Nachteile für die Opfer
Die Stadt Zürich hat als erste Gemeinde der Schweiz einen eigenen Solidaritätsbeitrag eingeführt. Die Rechtskommission des Nationalrates (RK-N) schlägt deshalb vor, dass kantonale und kommunale Solidaritätsbeiträge den Solidaritätsbeiträgen des Bundes gleichgestellt werden.
Damit wären künftig sämtliche Solidaritätsbeiträge von bis zu 25 000 Franken bei der Berechnung der Einkommenssteuer sowie bei den Leistungen der Sozialhilfe und den Sozialversicherungen nicht mehr zu berücksichtigen. Ausserdem wären sie unpfändbar. Der Bundesrat unterstützt den Vorschlag der RK-N für eine entsprechende Änderung des AFZFG. Dies hält er in seiner Stellungnahme vom 22. Mai 2024 fest.
Für den Bundesrat hat das Thema der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen hohe Priorität. Er hat sich stets für eine umfassende Aufarbeitung und Anerkennung des erlittenen Leids eingesetzt. So hat der Bundesrat in der Vergangenheit mehrere Anpassungen des AFZFG im Zusammenhang mit den Solidaritätsbeiträgen unterstützt. Unter anderem die Aufhebung der Frist für die Einreichung eines Gesuchs.
Frauen holen den Rückstand, der durch die Geburt entsteht, nicht mehr auf. Warum haben die Mütter einen so flachen Karrierepfad: Liegt es an den sozialen Normen?
Weshalb verdienen Frauen weniger als Männer? Die Frage sorgt seit Jahren für heftige politische Diskussionen. Ein möglicher Grund liegt in der Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt. Doch zumindest für ledige Frauen in der Schweiz scheint dies kaum zuzutreffen: Laut einer Studie des Bundes vom letzten Jahr verdienen unverheiratete Personen beider Geschlechter praktisch gleich viel: Ab dem 54. Altersjahr kommen ledige Frauen sogar auf einen leicht höheren Lohn, wenn man diesen auf ein Vollzeitpensum hochrechnet. Das deckt sich mit der internationalen Forschung: Demnach ist in den reichen Ländern der weitaus grösste Teil der Ungleichheit bei den Einkommen auf die Mutterschaft zurückzuführen. Die Ökonomen sprechen von der Child-Penalty. Umso überraschender ist es, dass das Bundesamt für Statistik bis heute keine Daten dazu erhebt, wie gross die Einkommenseinbusse ausfällt, welche die Mütter nach der Geburt des ersten Kindes erleiden. Licht ins Dunkel bringt nun eine umfassende Untersuchung, die das Berner Forschungsbüro Bass im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen erstellt hat. Basierend auf Zehntausenden Steuerdaten haben der Ökonom Severin Bischof und sein Team über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten analysiert, wie sich die Child-Penalty entwickelt hat.
Der Aufholeffekt bleibt aus
Zunächst zeigen die Daten eine markante Verbesserung: In den achtziger Jahren erlitten die Mütter nach der Geburt einen Einkommensverlust von gegen 80 Prozent. In der jüngsten Kohorte hat sich diese Einbusse auf lediglich 53 Prozent reduziert. «Der wichtigste Grund liegt darin, dass Mütter heute viel häufiger erwerbstätig bleiben – deren Anteil hat sich auf über 80 Prozent verdoppelt», sagt Severin Bischof. Ein zweiter Trend allerdings ist negativ: Die Fortschritte der Mütter auf dem Arbeitsmarkt stagnieren. Früher liess sich ein Aufholeffekt beobachten, indem viele Frauen später wieder einen Job aufnahmen oder ihr Arbeitspensum erhöhten. Doch inzwischen findet eine solche Zunahme der Erwerbstätigkeit nicht mehr statt: Bei der jüngsten Altersgruppe hat die durchschnittliche Child-Penalty bis im fünften Jahr nach der Geburt sogar um 5 Prozent zugenommen.
Mütter holen nicht mehr auf
Wo harzt es? Zwei Erklärungen sind denkbar: Mütter haben es schwer, sich auf dem Arbeitsmarkt durchzusetzen. Oder sie haben gar nicht das Bedürfnis, sich beruflich stärker zu engagieren, und sind zufrieden mit ihrem Pensum. «Es scheint, dass sich bei uns eine Child-Penalty von 50 Prozent als Marke etabliert hat, die sich nur schwer weiter senken lässt», sagt der Zürcher Ökonomieprofessor Josef Zweimüller, der seit Jahren zu diesem Thema forscht. «Die Gründe sind für mich ein Rätsel. Denn der ausgesprochen flache Karrierepfad der Mütter in der Schweiz kontrastiert mit dem Bild, das wir in anderen Ländern sehen.»Dass das Erwerbseinkommen unmittelbar nach der Geburt stark einbricht, sei nicht aussergewöhnlich, so Zweimüller. In Deutschland oder Österreich erreicht die Child-Penalty anfänglich noch höhere Werte. Danach jedoch setzt eine starke Aufholbewegung ein, während die Mütter hierzulande an Ort treten. Selbst in Schweden, das in Sachen Gleichberechtigung als fortschrittlich gilt, erreicht der Lohnrückgang zunächst 66 Prozent. Nach zehn Jahren aber verdienen schwedische Mütter nur noch 24 Prozent weniger als kinderlose Frauen.
Fortschritt bei der Bildung verpufft
Für den Ökonomen Zweimüller ist daher klar: «Die Schweiz verschenkt mit der mangelnden Einbindung der Mütter in den Arbeitsmarkt ein grosses Potenzial.» Dies finde aber nicht primär dann statt, wenn die Kinder noch klein sind – in dieser Phase hätten viele Länder eine grosse Child-Penalty. «Stattdessen schert die Schweiz aus, wenn die Kinder älter werden. Bei uns werden diese Ressourcen auf längere Frist zu wenig genutzt, zumal die Mütter immer besser ausgebildet sind.»Gerade von den Unternehmen wäre aufgrund des Fachkräftemangels zu erwarten, dass sie eine höhere Erwerbsbeteiligung der Mütter anstreben, erklärt Zweimüller. «Zudem müsste es für eine wirkliche Gleichstellung zur Norm werden, dass auch Väter ihr berufliches Engagement vorübergehend zurückschrauben.» Dies würde es erleichtern, dass anschliessend beide Elternteile ihr Potenzial auf dem Arbeitsmarkt ausschöpfen könnten, so der Ökonom. Doch gelte es hierzulande als selbstverständlich, dass Väter Vollzeit arbeiten. Welche Arbeitsteilung eine Familie wählt, hänge stark von den gesellschaftlichen Rollenmustern ab, und diese seien in der Schweiz eher traditionell ausgerichtet. Die Soziologieprofessorin Katja Rost von der Universität Zürich bestätigt diese Einschätzung: «Die tiefere Erwerbsbeteiligung der Mütter basiert meistens auf einer freiwilligen Entscheidung. Arbeiten dagegen beide Elternteile Vollzeit, so erfolgt dies oftmals aufgrund von ökonomischen oder politischen Zwängen, wie dies etwa in der früheren DDR der Fall war.»
Karriere oder Lebensqualität
Ausserdem sei in der Schweiz ein Wohlstandseffekt zu beobachten: Sobald das Einkommen ein gewisses Niveau erreicht habe, würden andere Werte wie die Lebensqualität wichtiger. «Wie sehr Frauen eine Karriere anstreben, ist auch von den sozialen Normen abhängig: Untersuchungen zeigen, dass in reichen Ländern dieser gesellschaftliche Einfluss gegenüber den materiellen Faktoren an Bedeutung gewinnt.» Interessante Daten dazu liefert auch das Büro Bass in seiner Studie. So wurde untersucht, für welche Rollenteilung sich jene Paare entscheiden, bei denen die Frau vor der Geburt des Kindes mehr Geld verdient als ihr Partner. Aus ökonomischer Warte wäre in einem solchen Fall zu erwarten, dass der Vater das Pensum stärker reduziert als die Mutter. Effektiv jedoch trifft dies nicht zu: Die Child-Penalty der Frauen mit dem besseren Lohn unterscheidet sich kaum von der anderen Gruppe, welche ein tieferes Einkommen erzielt. Man müsse daher vorsichtig sein mit wertenden Urteilen zur Child-Penalty, sagt die Soziologin Rost. Natürlich sei es fundamental, dass Frauen für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn bekommen. «Das bedeutet aber nicht, dass Mütter deswegen dieselben Karriereziele verfolgen wie Väter oder kinderlose Frauen.» Entscheidend sei die Wahlfreiheit: Der Begriff Child-Penalty oder «Kindesstrafe» habe wenig Sinn, wenn eine Mutter aus freien Stücken entscheide, sich primär um die Kinder zu kümmern.
Weiterlesen - ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag» vom 18.05.2024
Neue Forschungsergebnisse zeigen: Trotz Verbesserungen werden die Rechte von Menschen in prekären Situationen teilweise noch heute missachtet. Es brauche mehr Selbstbestimmung – aber keinen Flickenteppich.
Wer in der Schweiz arbeitsunfähig ist, die Wohnung verliert oder als Kind auf Schutz angewiesen ist, dem hilft der Sozialstaat. Von der Kesb bis zu Sozialhilfebehörden: Zahlreiche Stellen sollen dafür sorgen, dass Menschen hierzulande aus der Not herausfinden. Das nationale Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang» kommt nun zum Schluss: Die Sozialpolitik hat in den letzten Jahren zwar viel dazugelernt, an der Umsetzung aber hapert es teils noch. In Dutzenden Forschungsprojekten wurde das Schweizer Sozialwesen gründlich durchleuchtet – und Baustellen ausfindig gemacht.
Flickenteppich Schweiz
Eine der Haupterkenntnisse ist laut Alexander Grob, dem Präsidenten der Leitungsgruppe, dass vor allem Menschen in prekären Situationen in der heutigen Fürsorgepraxis ihrer Stimme oft nicht Gehör verschaffen können. «Das hat weniger mit der gesetzlichen Grundlage zu tun, sondern mit der Komplexität dieser Gesetzgebung.» Gemeint mit «Menschen in prekären Situationen» sind beispielsweise im Heim platzierte Jugendliche oder alleinreisende Flüchtlinge. Kritisiert wird der Flickenteppich an Aufgaben auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene im Sozial- und Fürsorgewesen. Laut den Forschenden soll eine schweizweite Harmonisierung Abhilfe schaffen, Verfahren und Finanzierung sollen überall gleich ablaufen. Handlungsempfehlungen haben die Forschenden in zehn Impulsen zusammengefasst. «Es kann nicht sein, dass eine Person aufgrund ihres Wohnorts eine für sie zugeschnittene gute Unterstützung erhält und die andere, weil sie an einem anderen Ort wohnt, nicht», sagt Alexander Grob. Zum Beispiel kommen die Studien zum Schluss, dass Minderjährige auf Kantonsebene heute mehr fremdplatziert werden, Gemeinden hingegen ordnen tendenziell weniger Fremdplatzierungen an.
Selbstbestimmung für Jugendliche
Eine weitere Baustelle im Schweizer Sozialwesen bleibt, trotz Verbesserungen, die Mitwirkung der Betroffenen: «Die Selbstbestimmung im Verfahren ist ein grosses Problem. Vor allem für Menschen, die sprachliche Schwierigkeiten haben, unser System oder unsere Kultur zu verstehen.» Bei Hausbesuchen, etwa im Auftrag der Kesb, könnten viele nicht nachvollziehen, wer bei ihnen klingelt, respektive welche Funktion die Fachperson habe. Auch sollten Jugendliche, die im Heim platziert waren oder geflüchtet sind, besser im Übergang zum Erwachsenenleben unterstützt werden. «Quasi von einem Tag auf den anderen haben sie keine Unterstützung mehr und werden in die Eigenständigkeit entlassen.» Auch hierfür bräuchte es mehr Ressourcen.
Mittel zur Aufarbeitung
Den Ursprung hat die grossangelegte Forschung in der Aufarbeitung des Schicksals der Verdingkinder. Diese waren von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen zwischen den 50er- bis Anfang der 80er-Jahre betroffen. Die Aufarbeitung der Vergangenheit sei vielfach mit einem Einbruch der Identität verbunden. Neben der Anerkennung des Geschehenen brauche es auch finanzielle Mittel zur Aufarbeitung ihrer Geschichte. Eine weitere Erkenntnis der Studie ist denn laut Alexander Grob auch: «Eingriffe ins Leben haben langfristige Folgen.» Das gilt für früher wie heute.
Mehr zum Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang»
2017 beauftragte der Bundesrat den Schweizerischen Nationalfonds (SNF), ein Forschungsprogramm zum Thema Fürsorge und Zwang durchzuführen. Auch mit dem Hintergrund der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen vor 1981. Bis Ende 2023 analysierten rund 150 Forschende in 29 Projekten Merkmale, Mechanismen und Wirkungen der schweizerischen Fürsorgepolitik und -praxis. Das Budget betrug 18 Millionen Franken. Die Forschenden identifizierten Ursachen für integritätsverletzende sowie Bedingungen für integritätsschützende Praktiken und analysierten die Auswirkungen auf betroffene Personen. Die Ergebnisse des NFP 76 wurden in drei thematischen Buchbänden und in der Abschluss-Synthese «Eingriffe in Lebenswege» publiziert.
Weiterlesen - ein Beitrag von Evelyne Schlauri erschienen am 16.05.2024 auf srf.ch
Die Geburtenrate geht fast überall auf der Welt zurück, und zwar schneller als erwartet. Die Schweiz ist dabei keine Ausnahme und könnte deshalb trotz Zuwanderung bald einen Bevölkerungsrückgang erleben. Warum das keine gute Nachricht ist.
«Die Welt steht an einem überraschenden demografischen Wendepunkt», warnte das «Wall Street Journal» am Montag. Der Grund: Die Zahl der Geburten sinkt rapide. Und das «fast überall». «Ein Zusammenbruch», der viel schneller und weiter verbreitet sei als erwartet – und der weitreichende wirtschaftliche, soziale und geopolitische Auswirkungen haben könnte, warnt die US-amerikanische Tageszeitung. Ein Beweis dafür ist, dass die globale Fruchtbarkeitsrate – ein Index, der die durchschnittliche Anzahl der Kinder pro Frau angibt – bald zu niedrig sein wird, um eine sogenannte natürliche Erneuerung der Bevölkerung zu ermöglichen. Um dies zu erreichen, darf die Rate nicht unter 2,2 fallen (2,1 in den entwickelten Ländern). Im Jahr 2017 lag die weltweite Fruchtbarkeitsrate bei 2,5 Kindern pro Frau. Damals schätzten die Vereinten Nationen, dass sie bis Ende der 2020er-Jahre 2,4 erreichen würde. Bis 2021 war sie jedoch bereits auf 2,3 gesunken. Nach Schätzungen des «Wall Street Journal» könnte sie nun unter 2,2 liegen.
«Kindermangel» in der Schweiz
Der Rückgang ist insbesondere in der Schweiz sichtbar, wo die Geburtenrate Ende der 1960er-Jahre unter diese Schwelle fiel und heute bei 1,3 Kindern pro Frau liegt. «Hierzulande bekommen die Paare immer weniger Kinder», bestätigt Philippe Wanner, Demograf an der Universität Genf. «Wir haben eine Situation des Mangels.» Der Experte weist jedoch darauf hin, dass es sich bei der Quote von 2,1 um «eine theoretische Grenze» handelt, da sie die Migration nicht berücksichtigt.
«Die meisten Länder mit einer Geburtenrate von unter 2,1, darunter auch die Schweiz, profitieren von einem Zustrom durch Migration.»
Philippe Wanner, Universität Genf
Die Migration trägt also dazu bei, den Rückgang der Geburten auszugleichen. Diese Situation wird jedoch nicht ewig anhalten, prognostiziert der Demograf. «Die Schweiz zieht derzeit viele Ausländerinnen und Ausländer an, weil sie die lokale Migration begünstigt und hohe Löhne bietet. Aber dieser Migrationsstrom wird möglicherweise versiegen», erklärt er. Der Grund dafür ist, dass sich unsere Nachbarn «in einer fortgeschritteneren demografischen Situation befinden als wir», fährt Philippe Wanner fort. «Deren Bevölkerung hat bereits begonnen zu schrumpfen, und ihr natürliches ‹Saldo› ist negativ, was bedeutet, dass die Zahl der verfügbaren Arbeitsplätze steigt.»
«Der Lohnvorteil der Schweiz könnte also nicht mehr ausreichen, um neue junge Menschen anzuziehen.»
Philippe Wanner, Universität Genf
«Die Situation ist ernst»
Die Gefahr eines demografischen Rückgangs in der Schweiz ist also real, sagt Philippe Wanner. «Vorerst wächst die Schweizer Bevölkerung weiter. Kurzfristig wird dies auch weiterhin der Fall sein, aber ab 2035 bis 2040 dürfte sich das ändern», fügt er hinzu.
«Wenn nichts unternommen wird, könnte die Population noch stärker zurückgehen. Die Situation ist ernst und muss sorgfältig überwacht werden.» Philippe Wanner, Universität Genf
Die Folgen eines solchen Szenarios dürfen nicht unterschätzt werden. «Der demografische Rückgang führt in erster Linie zu einem Mangel an Arbeitskräften», erklärt Philippe Wanner. «Wenn die Bevölkerung schrumpft, drängen weniger junge Menschen auf den Arbeitsmarkt. Irgendwann werden sie nicht mehr in der Lage sein, die älteren Arbeitnehmer, die in den Ruhestand gehen, zu ersetzen». Und der Demograf weist darauf hin, dass die Rentnerinnen und Rentner «noch viele Jahre lang leben und konsumieren werden». Das Resultat: «Eine zunehmende Verarmung der Bevölkerung. Die steigende Zahl der Menschen in Rente treibt die Sozialversicherungsbeiträge in die Höhe, aber auch die der Erwerbstätigen.» Darüber hinaus «führt diese Situation auch zu einem Rückgang des Wachstums, da die Arbeitnehmer nicht mehr in der Lage sind, genügend zu produzieren».
Eine private Angelegenheit
In vielen Ländern betrachten die Behörden dies als eine Angelegenheit von nationaler Dringlichkeit. Jüngstes Beispiel ist der Ende Januar von Emmanuel Macron angekündigte Plan zur «demografischen Aufrüstung», mit dem der Geburtenrückgang in Frankreich bekämpft werden soll. Mehrere Regierungen haben ähnliche Programme aufgelegt. Bislang ist es ihnen allerdings nicht gelungen, die Dinge in Bewegung zu bringen, schreibt das «Wall Street Journal». «Diese Erfahrungen zeigen, dass es sehr schwierig ist, die Geburtenrate willentlich zu verändern, und dass auch eine sehr grosszügige Geburtenpolitik nicht unbedingt funktioniert», bestätigt Philippe Wanner.
«In Osteuropa zum Beispiel versprachen die Behörden Paaren, die sich für Kinder entschieden, sehr hohe Zuschüsse, was aber nicht zu einem Anstieg der Bevölkerungszahl führte.» Philippe Wanner, Universität Genf
So etwas ist in der Schweiz noch nie versucht worden – und das aus gutem Grund. «In der Schweiz gilt die Familie als Privatsache, und der Staat sollte sich nicht in das Reproduktionsverhalten der Bevölkerung einmischen», erklärt der Demograf. «Aus diesem Grund verfolgen die Schweizer Behörden auch keine Fertilitätspolitik mit dem klaren Ziel, die Kinderzahl zu erhöhen.» Wenn der Anreiz mit Geld nicht funktioniert, so könne die Schaffung eines familienfreundlichen Umfelds effektiver sein, glaubt Wanne. Auch in der Schweiz: «Der Staat und die Unternehmen könnten auf dieser Ebene intervenieren: die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtern, eine vorteilhafte Steuerpolitik vorschlagen, Ermässigungen auf ÖV-Preise anbieten, den Zugang zu Kinderkrippen verbessern», zählt er auf. Dem Demografen zufolge sind dies derzeit hierzulande alles Fallstricke, die zum Rückgang der Geburtenrate beitragen.
«Umfragen zeigen, dass einige Paare gerne mehr Kinder hätten, aber dieser Wunsch stösst auf viele praktische Schwierigkeiten.»
Philippe Wanner, Demograf
Zusammenfassend fordert Philippe Wanner dazu auf, «den Kindern den ihnen zustehenden Platz in der Gesellschaft zurückzugeben». Die Situation ist dringend: «Wenn die Geburtenrate sinkt, ist es schwierig, wieder ein Gleichgewicht herzustellen», sagt er abschliessend.
Weiterlesen - ein Beitrag von Alberto Silini erschienen am 15.05.2024 auf watson.ch Aus dem Französischen von watson.ch/fr übersetzt.