Psychische Probleme bei Jugendlichen nehmen zu. Die Beratungen wegen Suizidgefährdung haben sich verdoppelt. Junge Menschen warten oft lange, bis sie Hilfe bekommen, weil es zu wenig Plätze gibt und Fachkräfte fehlen. Die Junge Mitte sieht dringenden Handlungsbedarf.
Mit 12 Jahren hat es angefangen. Erst waren es depressive Verstimmungen, später längere depressive Phasen. «Mir fehlte die Kraft für ganz alltägliche Dinge. Duschen war plötzlich anstrengend, fürs Zähneputzen fehlte die Motivation», erzählt der Zürcher Emil Helbling (19). Ein täglicher Kampf – auch emotional. In der Sekundarschule war es besonders schlimm. Helbling fehlte im Unterricht immer öfter: «Das belastet dich zusätzlich, weil du weisst: Jetzt müsstest du eigentlich in der Schule sein und etwas leisten. Aber du bist antriebslos zu Hause. Das macht ein sehr schlechtes Gewissen, weil du es nicht mal schaffst, dorthin zu gehen.» Ein Rattenschwanz, der alles verschlimmert. Emil Helbling ist nur einer von vielen. Psychische Probleme bei Jugendlichen in der Schweiz nehmen zu. Die Zahlen des Bundes für 2021 zur psychischen Gesundheit in der Schweizer Bevölkerung zeigen: Psychische Krankheiten waren erstmals die häufigsten Ursachen für Spitaleinweisungen bei 10- bis 24-Jährigen (19’532 Fälle). Der Anstieg beträgt 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Besonders betroffen sind junge Frauen (+26 Prozent), bei gleichaltrigen Männern betrug der Anstieg 6 Prozent.
Jede zweite IV-Rente auf psychische Ursachen zurückzuführen
Diese Bilanz deckt sich mit den neuesten Zahlen der Invalidenversicherung (IV): Allein im Jahr 2021 verzeichnete sie gemäss Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) fast 9000 Neurentnerinnen und Neurentner mit psychischen Erkrankungen. Das sind 16 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Jede zweite IV-Rente lässt sich mittlerweile auf psychische Ursachen zurückführen. Dramatisch ist die Zunahme bei den 18- bis 24-Jährigen. Dort erreicht der Anteil schon 70 Prozent. Er ist damit viermal so hoch wie noch vor 25 Jahren. Auch Pro Juventute schlägt Alarm. Das Jugendhilfswerk teilte mit, die Zahl der Beratungen für Kinder und Jugendliche bei der Hotline 147 wegen Suizidgedanken habe sich von täglich 3 bis 4 im Jahr 2019 auf 7 bis 8 im Jahr 2022 verdoppelt.
«Multikrise» als Auslöser
Markant zugenommen haben auch die Kriseninterventionen. Seien es 2019 wegen Suizidgefährdung noch deren 57 gewesen, habe sich die Zahl 2022 mit 161 Interventionen fast verdreifacht, teilt das Jugendhilfswerk mit. Als Auslöser für den markanten Anstieg sieht Pro Juventute die «Multikrise». «Corona-Pandemie, Klimakrise, Ukraine-Krieg, drohende Inflation, soziale Ungerechtigkeit – Krisen überlappen sich und treffen Kinder und Jugendliche in einer besonders verletzlichen Lebensphase», so Pro Juventute. Emil Helbling bestätigt das. Er sagt: «Diese Krisen lassen niemanden kalt. Wenn man jung und sich bewusst ist, dass es sich dabei um Dinge handelt, die ausserhalb der eigenen Kontrolle sind, dann ist das ein extremes Gefühl von Hilflosigkeit und Kontrollverlust. Das belastet einen total.»
Wartezeiten bis zu 18 Monate
Hinzu kommen bei Jugendlichen laut Experten Zukunfts- und Versagensängste. Verstärkt würden diese durch den Leistungsdruck in Schule und Job. Negativ auf die psychische Gesundheit können sich auch die sozialen Medien auswirken. Studien zeigen: Zu viel Zeit in den Online-Netzwerken kann gefährlich werden. Die Folge der steigenden Zahlen bei psychischen Erkrankungen von jungen Menschen: Platznot in Kinder- und Jugendpsychiatrien. Jugendliche und Kinder müssen im Kanton Zürich bis zu einem Jahr auf eine Abklärung durch einen Psychiater warten. Im Kanton Bern präsentieren sich die Zahlen noch dramatischer: Dort warten psychisch belastete Kinder und Jugendliche zum Teil bis zu 18 Monate auf eine Behandlung im Ambulatorium der Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD).
Junge Mitte reicht Initiative ein
Emil Helbling weiss, was es heisst, auf Hilfe warten zu müssen. «Für die erste stationäre Behandlung musste ich acht Monate lang warten. Das ist – für den Zustand, in dem man sich befindet – eine viel zu lange Zeitspanne.» Eine unhaltbare Situation, weil Betroffene wie Helbling mit ihren Problemen alleingelassen werden. «Klar geht man dann in eine ambulante Therapie, aber je nach Zustand wird schnell klar, dass das nicht reichen wird. Darum brauchte ich einen stationären Platz in einer Klinik», erzählt er. Das sei ein enormer Schlag ins Gesicht. Denn: Es habe bereits sehr viel Überwindung gekostet, professionelle Hilfe überhaupt in Anspruch zu nehmen. «Und dann heisst es: ‹Schön, dass du dich darauf einlässt, aber du musst jetzt halt noch einmal warten.›» Die Junge Mitte fordert wegen genau solcher Vorfälle Massnahmen, die sicherstellen, dass psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche innert vier Wochen durch Fachpersonen behandelt werden. Sie haben am Freitag im Kanton Zürich eine Initiative mit über 9000 Unterschriften eingereicht.
«Viele sind selbst betroffen oder kennen jemanden»
Der Co-Präsident der Jungen Mitte, Benedikt Schmid (21), sagt: «Bei keiner anderen Initiative war es so einfach, die Leute auf der Strasse zu überzeugen. Viele sind selbst betroffen oder kennen jemanden, der psychische Probleme hat.» Er selbst hat einen Suizid im näheren Umfeld erlebt, das habe ihm die Augen geöffnet, erzählt er. «Auf einmal verstand ich besser, was die Selbstverletzungen an den Armen um mich herum genau bedeuten.» Umso erschreckender sei es gewesen, wie wenig Hilfe die betroffenen Menschen erhalten hätten. «Eine Therapiestunde alle zwei Wochen war das Maximum. Je länger ich mich mit der Thematik befasste, umso hässiger wurde ich, dass so wenig Hilfe angeboten wird», erzählt Schmid. Und so sei ihm klar geworden, dass er politisch die Sache zum Besseren verändern wolle. Emil Helbling hat sich mittlerweile gefangen, dank einer regelmässigen Therapie. Die Initiative begrüsst er deshalb umso mehr. Er sagt: «Die Wartezeiten müssen kürzer werden. Ich finde es nicht haltbar, dass Menschen, die bereits in einer solchen Situation sind, denen es nicht gut geht, dann noch lange auf die Hilfe warten müssen, die sie dringend bräuchten. Es besteht darum auch politischer Handlungsbedarf.»
Weiterlesen - ein Beitrag von Sophie Reinhardt und Tobias Ochsenbein erschienen am 25.02.2023 auf www.blick.ch
Männer haben fast immer Vollzeit-Pensen. Im Weg stehen ihnen die Gesellschaft, die Arbeitgeber – und sie selbst.
Die neusten Zahlen des Bundes vom 20. Februar bestätigen es wieder. 8 von 10 Männern in der Schweiz arbeiten Vollzeit. Unter den Frauen sind es 4 von 10. Zwar sind die Teilzeit arbeitenden Männer ein wenig mehr geworden (18.7 statt 18.2 Prozent) und die Teilzeit arbeitenden Frauen ein wenig weniger (57.9 statt 58.6 Prozent), doch die grosse Annäherung bleibt aus. Warum ist Teilzeit so viel selbstverständlicher bei Frauen? Und weshalb wird der Graben noch grösser, wenn Kinder ins Spiel kommen? Väter arbeiten noch seltener Teilzeit: Es ist dann nur noch etwas mehr als 1 Mann von 10. Hingegen arbeiten fast 8 von 10 Müttern Teilzeit. «Ich glaube, dass hierfür ganz unterschiedliche Faktoren eine Rolle spielen, die zu diesem Struktureffekt führen, der von niemandem ganz bewusst intendiert war», sagt Bianca Prietl, Professorin für Geschlechterforschung an der Universität Basel.
Kurz gesagt sind es mindestens folgende Faktoren:
Männer verdienen oftmals mehr, deshalb «lohnt» sich deren Arbeit mehr für ein Paar.
Das Selbstbild des Mannes als Versorger ist immer noch stark verankert.
Männer mit dem Wunsch nach Teilzeit-Arbeit haben geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Zu den ersten beiden Punkten kann Oliver Hunziker viel sagen. Er ist Präsident des Vereins für elterliche Verantwortung. Zudem gehört er dem Vorstand von Pro Familia an. Und er hat das erste Männerhaus der Schweiz gegründet. In seinen Beratungen trifft er oft auf Männer mit folgendem Gedankengut: «Das Ziel des Lebens ist: Ich finde einen guten Job. Ich verdiene gut. Ich kann eine Familie ernähren.» Und weiter: «Sobald aus einem Paar eine Familie wird, stellt sich die Frage: Wer hat welches Einkommen, basierend auf welcher Ausbildung? Dann kommt es immer noch sehr häufig vor, dass schnell klar ist, dass der Mann weiterarbeitet. Und schon ist die Familie in einem traditionellen Modell, das sich unter Umständen nicht mehr so einfach auflösen lässt.»
Wenig Teilzeit unter Männern ist auch zum Nachteil der Frauen
Dabei zeigen Befragungen, dass eine Mehrheit der Männer eigentlich weniger arbeiten will. Wenn das nicht realisiert werden könne, sagt Bianca Prietl «dann können diese Männer schlichtweg einer Vorstellung nicht gerecht werden, die sie selbst von ihrem eigenen privaten Engagement haben.» Hinzu kommt, dass die wenige Teilzeit-Arbeit auch zum Nachteil der Frauen ist. Denn, so Prietl: «Oft sind Teilzeitjobs auch, bildlich gesprochen, berufliche Sackgassen. Sie gehen mit geringeren Möglichkeiten des Aufstiegs einher, mit geringeren Möglichkeiten der beruflichen Weiterentwicklung, sind seltener mit anspruchsvollen oder gar Führungspositionen verknüpft.»
Teilzeit suchende Männer werden seltener eingeladen
Dass Teilzeit-Arbeit mit beruflichen Nachteilen verknüpft ist, beweisen die Forschungen des Ökonomen Daniel Kopp. Er hat an der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich am Beispiel des Stellenportals «Job Room» untersucht, welche Kandidaten Arbeitgeber anklicken; und auch, welche sie schliesslich zum Gespräch einladen. Er sagt: «Die Studie zeigt, dass Leute, die eine Teilzeitstelle suchen, grössere Schwierigkeiten haben, zu einem Interview eingeladen zu werden. Das gilt grundsätzlich für beide Geschlechter, aber die Benachteiligung von Teilzeitstellen Suchenden ist besonders ausgeprägt bei Männern.» Nur halb so oft kommen laut seiner Forschungen Männer für eine Teilzeitstelle in Betracht – im Vergleich zu Frauen. Teilzeit arbeitende Männer und Frauen leben beruflich in unterschiedlichen Welten, besonders wenn sie Eltern sind. Der 80 Prozent arbeitende Vater erhält Anerkennung für seinen «Papi-Tag», die Frau im 80-Prozent-Pensum erstaunte Blicke, dass sie «so viel» arbeitet. Dieselbe Mutter wird im Teilzeitjob ernster genommen, derselbe Vater muss sich Fragen stellen lassen, ob seine Ambitionen nicht gross genug seien. Das sind vielfach berichtete Erfahrungen bei der Recherche zu diesem Thema.
Fachkräftemangel hilft
Allerdings scheint in die Sache etwas Bewegung gekommen zu sein. Denn Daniel Kopp hat die Auswertung vor 1.5 Jahren abgeschlossen. Seitdem hat sich der Fachkräftemangel in vielen Branchen verschärft. Auf Nachfrage bestätigt Valentin Vogt, Präsident des Arbeitgeberverbands, dass sich Teilzeitarbeit mehr durchsetze. Es seien der «Zeitgeist und die schiere Not der Arbeitgeber», die dafür sorgten. Auch der Stellenvermittler Adecco schreibt: «Wir vermuten, dass der Fachkräftemangel den Trend zu mehr Teilzeitstellen bekräftigt, da Unternehmen sich gezwungen sehen, mehr auf die Bedürfnisse der Arbeitnehmer einzugehen.» Man beobachte, dass der Anteil an ausgeschriebenen Teilzeitstellen im Verlauf der Zeit kontinuierlich gestiegen sei.
Das Ideal der Vollzeitarbeit habe an Reiz eingebüsst, sagt Gender-Forscherin Bianca Prietl, und zwar bei beiden Geschlechtern. Es bestünden etwa grosse Sympathien für eine Vier-Tage-Woche.«Eine offene Frage ist derzeit aber noch: Was würde das aus Gleichstellungsperspektive bedeuten?», fragt sie. «Würde diese frei werdende Zeit in die Übernahme von privater Sorgearbeit, sei das jetzt für Kinder oder zu pflegende Angehörige, investiert werden? Oder wäre es die Zeit, um ein besonders aufwändiges Hobby zu pflegen? Dann würde die private Sorgearbeit nicht neu verteilt werden zwischen den Geschlechtern, sondern weiterhin in grossen Teilen Frauenarbeit bleiben.»Wie auch immer diese Frage beantwortet werden wird: Eigentlich stehen die Zeichen gut für mehr Teilzeit-Arbeit durch Männer – und dafür, dass die Geschlechter im Beruf einst gleich wahrgenommen werden. 10vor10, 20.2.23, 21.50 Uhr
Mehrheit ist für weniger Arbeit
Laut einer Umfrage des Instituts Sotomo von Ende 2022 sind 68 Prozent der Bevölkerung der Meinung, dass man in der Schweiz zu viel arbeite. Eine Vier-Tage-Woche würde von zwei Dritteln begrüsst. Unter den 18- bis 30-Jährigen liegt die Zustimmung bei über 80 Prozent.
Weiterlesen - ein Beitrag von Manuela Siegert erschienen am 22.02.2023 auf www.srf.ch
Der Bundesrat will keinen Beitrag an günstige Kita-Plätze liefern. Ein Faustschlag ins Gesicht all jener, die sich für Gleichstellung einsetzen.
Die Schweiz ist mental in der Nachkriegszeit stehen geblieben. Zumindest in der Familienpolitik. Das heutige System ist darauf angelegt, dass der Mann arbeitet und die Frau zu Hause nach den Kindern schaut. Mit der Realität hat das wenig zu tun. Gerade mal jedes fünfte Paar mit Kindern lebt heute nach diesem Modell. Heisst: Vier Fünftel teilen sich die Arbeit anders auf. Fakt ist aber auch: Bei jenen Paaren, bei denen beide arbeiten, ist die Erwerbsarbeit ungleich aufgeteilt. Meist arbeitet der Mann Vollzeit und die Frau Teilzeit. Das mag mit dem verbreiteten traditionellen Rollenbild zu tun haben. Doch es ist eben auch eine Folge des aktuellen Systems. Dieses setzt keinerlei Anreize, dass sich Mann und Frau zu gleichen Teilen um die Kinder kümmern.
Vielmehr wird steuerlich belohnt, wenn der Mann zu hundert Prozent und die Frau gar nicht oder in kleinem Pensum arbeitet. Auch Kitaplätze sind so teuer, dass sich bei zwei Kindern eine Erhöhung des Arbeitspensums oftmals gar nicht lohnt. Dabei sind Kitas heutzutage Teil der staatlichen Infrastruktur – so wie Schulen oder Strassen. Viele europäische Länder haben das erkannt. In der Schweiz hingegen torpediert der Bundesrat eine Vorlage, die eine Vergünstigung der teuren Kitaplätze zum Zweck hat. Argument: die «angespannte finanzielle Situation».
Das ist ein Faustschlag ins Gesicht all jener, die sich für die Gleichstellung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt einsetzen. Denn so lange Arbeitnehmer damit rechnen müssen, dass Frauen nach der Geburt eines Kindes gar nicht oder mit Kleinstpensen zurückkehren – so lange haben sie keinen Anreiz, junge Frauen einzustellen oder gar zu fördern. Derselbe Bundesrat, der die Frauen aufruft, ihre Pensen zu erhöhen, sabotiert nun exakt diese Bemühungen. Die hohen Kitakosten sind nur ein Puzzleteil der fehlgeleiteten Schweizer Familienpolitik. Denn Kinder sind keine Privatsache, wie es von bürgerlicher Seite so gerne heisst. Sie sind, im heutigen System, Frauensache: Diese sind es, die sich um die Kinder kümmern und beruflich zurückstecken. Das zeigt sich exemplarisch am Fehlen einer Elternzeit.
Der Mutterschaftsurlaub bedeutet ja: Die Frau kümmert sich um das Kind, damit der Vater so schnell wie möglich zurück ins Büro kann. Doch der Mutter hält niemand den Rücken frei, wenn sie wieder arbeiten möchte. Die Konsequenz davon: Die Mutter bleibt zu Hause – und der Vater lernt nie, sich alleine um sein eigenes Kind zu kümmern. Dementsprechend wenige Paare sorgen gemeinsam für die gemeinsam gezeugten Kinder.
Weiterlesen - ein Beitrag von Camilla Alabor erschienen am 19.02.2023 auf www.blick.ch
Ein Entscheid des deutschen Bundesarbeitsgerichts zu Equal Pay dürfte weitreichende Auswirkungen haben. Auch in der Schweiz gilt das Gleichstellungsgesetz vor Vertragsfreiheit. Eine Frau klagte gegen ihren Ex-Arbeitgeber. Die Firma zahlte ihrem Kollegen mit gleicher Qualifikation für dieselbe Arbeit mehr Lohn. Der Mann habe beim Lohn besser verhandelt. Das deutsche Bundesarbeitsgericht sprach der Frau Lohnnachzahlungen zu.
Frauen steht das gleiche Gehalt wie Männern zu, sie dürfen bei gleicher Leistung und gleicher Qualifikation lohnmässig nicht diskriminiert werden. Das ist gesetzlich und in der Verfassung so vorgeschrieben, nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutschland. Nun hat das deutsche Bundesarbeitsgericht ein Grundsatzurteil für Equal Pay gefällt, wie deutsche Medien berichten. Eine Frau klagte gegen ihren Ex-Arbeitgeber, der einem Kollegen mit gleicher Qualifikation für dieselbe Arbeit 1000 Euro mehr bezahlte. Die Firma begründete dies mit der besseren Lohnverhandlung des Mannes und bezog sich auf den Grundsatz der Vertragsfreiheit. Doch das liess das Bundesarbeitsgericht nicht durchgehen und kippte die Entscheidungen zweier untergeordneter Gerichte, die dem Arbeitgeber recht gaben. Die unterschiedliche Bezahlung begründe die Vermutung der Diskriminierung wegen des Geschlechts, urteilte die Richterin.
«Männer und Frauen sind endlich gleichberechtigt»
Das Gericht sprach Klägerin Susanne Dumas 14’000 Euro entgangenen Lohn und 2000 Euro Entschädigung zu. «Seit 1949 steht es im Grundgesetz, heute ist es endlich in der Arbeitswelt angekommen: Männer und Frauen sind gleichberechtigt», sagte Dumas in einem Statement. Die Auswirkungen sind weitreichend. Denn wenn nun ein Arbeitnehmer mehr Lohn fordert, muss die Bezahlung von Arbeitnehmerinnen mit gleicher Qualifikation im selben Masse steigen. Ist das nicht der Fall, können sie ebenfalls vor Gericht ziehen und sich an diesem Urteil orientieren.
Verhandeln rechtfertigt auch in der Schweiz keine Lohnunterschiede zwischen Mann und Frau
In der Schweiz ist die Rechtslage vergleichbar, sagt Roger Rudolph, Experte für Arbeitsrecht und Professor an der Uni Zürich, zu 20 Minuten. «Mindestens auf längere Frist kann eine ungleiche Entlohnung von Frau und Mann nicht mit dem besseren Verhandeln eines Arbeitnehmers gerechtfertigt werden», so Rudolph. Nach einer begrenzten Zeit von etwa einem Jahr müsse die Lohndifferenz eingeebnet werden. Auch für Arbeitsrechtsspezialist und Rechtsanwalt Dr. Denis G. Humbert von der Arbeitsrechtskanzlei Humbert Heinzen Lerch ist die Lohnverhandlung keine Begründung für den höheren Lohn bei gleicher Voraussetzung. «Untersuchungen zeigen, dass Männer sich oft besser verkaufen können, aber ein höherer Lohn wäre bei gleicher Leistung und gleicher Qualifikation trotzdem klar diskriminierend», so Humbert. Dann könnte man auch in der Schweiz eine Klage wegen Lohndiskriminierung erheben, sagt Daniella Lützelschwab, Ressortleiterin Arbeitsmarkt und Arbeitsrecht beim Schweizerischen Arbeitgeberverband, zu 20 Minuten. «Nicht in jedem Betrieb gibt es aber für jede Frau einen Mann mit identischen lohnrelevanten Merkmalen zur Bestimmung des Vergleichslohns. Sei es, dass sie nicht gleich alt sind, nicht über die gleiche Anzahl von Dienstjahren verfügen oder sich bei den Arbeitspensen und den Funktionen unterscheiden», so Lützelschwab. Grundsätzlich sei es wichtig, dass man sich gut auf Bewerbungsgespräche vorbereite und auf die eigenen Stärken hinweise.
Weiterlesen - ein Beitrag von Fabian Pöschl erschienen am 18.02.2023 auf www.20min.ch
250 Firmen – aber eine schwingt obenaus. Welche das ist und wo deine Firma rangiert, erfährst du im grossen Ranking der besten Arbeitgeber.
Nicht nur gehören ihre Produkte zu den Lieblingen der Schweizerinnen und Schweizer, jetzt erhält sie erneut die Auszeichnung als beste Arbeitgeberin: die Firma Zweifel Pomy-Chips AG. «Wir freuen uns ausserordentlich, zum zweiten Mal in Folge die Auszeichnung zum besten Arbeitgeber entgegennehmen zu dürfen», so der CEO Christoph Zweifel. «Es macht mich persönlich enorm stolz, dieses Unternehmen führen zu dürfen.» Zweimal nacheinander zuoberst – das ist eine einmalige Leistung. Doch was braucht es, um es überhaupt unter die besten Arbeitgeber zu schaffen? Welche Firmenstrukturen überzeugen, und was gilt zwischenmenschlich?
Rang
Arbeitgeber
Score
Rang Vorjahr
Branche
1.
Zweifel
8,96
1
Herstellung von Lebens- und Genussmitteln
2.
Schindler
8,70
2
Maschinen- und Anlagebau
3.
Rolex
8,63
4
Uhren/Schmuck
4.
Breitling
8,56
5
Uhren/Schmuck
5.
Microsoft Schweiz
8,41
7
Internet, Telekommunikation, IT
6.
Schweizerische Südostbahnen
8,33
28
Verkehr und Logistik
7.
EPFL Eidg. Technische Hochschule Lausanne
8,28
47
Bildung und Forschung
8.
Geberit
8,27
13
Herstellung und Verarbeitung von Werk- und Baustoffen
9.
Roche
8,25
40
Chemie und Pharma
10.
Apple Schweiz
8,20
38
Einzelhandel
Die turbulenten Jahre der Pandemie hoben innert kürzester Zeit bestehende Prozesse aus ihren Fugen – schnelle Anpassungen und grosse Bereitschaft von allen Seiten war gefragt. Letztes Jahr galt es dann, das neue Miteinander zu definieren und wieder Ruhe ins Unternehmen zu bringen. Dabei scheint es, dass zeitweise das Miteinander litt.
Respekt ist grossgeschrieben
Aus den Gesprächen mit den besten Arbeitgebern kristallisierte sich heraus, dass sie alle noch mehr Wert auf die Kultur des Respekts legen. Der Hintergrund ist, dass die Arbeit vor dem Bildschirm die Kommunikation erschwert. Während Missverständnisse bei einem Besuch am Arbeitsplatz innert Minuten ausgeräumt werden, dauern Diskussionen per E-Mail zumeist länger. Eine Firma, die dieses Problem früh erkannte, ist Geberit. Sie geht schwierige Situationen denn auch pragmatisch an und hört erst mal beiden Seiten genau zu. Denn Probleme seien oft Folgen von zu wenig klaren Aussagen und entsprechend deeskalierend wirke ein persönliches Gespräch. Auch die in den Top Ten vertretene EPFL – das französischsprachige Pendant der ETH – ist stolz auf die familiäre Kultur und das Miteinander, das sie trotz der Vielzahl von Abteilungen und Internationalitäten aufweist. Das funktioniere aber nur, weil das gegenseitige Verständnis gefördert und aufgebaut wird.
Mitarbeitende im Zentrum
Auch Christoph Zweifel verortet in der Kultur einen Schlüssel zum erneuten Erfolg: «Im Zentrum unseres Erfolgs stehen unsere Mitarbeitenden. Sie alle sorgen für bleibende und genussvolle Erlebnisse, indem sie gemeinsam mit viel Freude und Begeisterung alles für die besten Chips und Snacks tun. Unsere gelebten Unternehmenswerte spielen dabei eine zentrale Rolle – sie bilden die Basis für unsere erfolgreiche Zusammenarbeit.» Was Zweifel Pomy-Chips zusätzlich besonders hoch attestiert wurde, ist das ausgewogene Verhältnis zwischen Belastung und Freiraum. Denn die Pandemie erinnerte viele daran, wie wichtig ihnen die Familie ist, und verstärkte den Wunsch nach einer ausgeglichenen Work-Life-Balance. Entsprechend gilt für alle Arbeitgeber: Fokus auf die Mitarbeitenden und deren persönliche Anliegen – denn am Schluss sind es sie, die die Firma tragen.
Weiterlesen - ein Beitrag von Tina Fischer («Handelszeitung») erschienen am 16.02.2023 auf www.blick.ch
Auch mit Doppelverdienst sind Vicky und Ivan finanziell am Limit. Auch der Mittelstand müsse immer stärker aufs Geld schauen, sagen Experten. Obwohl sie ein Einkommen von 8000 Franken haben, leben Vicky und Ivan von Monat zu Monat. Das liegt auch am Schweizer Steuer- und Subventionssystem. «Ab einem gewissen Einkommen lohnt es sich oft kaum, mehr zu arbeiten», heisst es bei Avenir Suisse. 20 Minuten hat anhand zweier Beispielfamilien nachgerechnet: Familie 1 verdient 8000 Franken, Familie 2 6000 Franken. Von einem Mehrverdienst von 2000 Franken gibt Familie 1 fast 800 Franken gleich wieder ab. «Dass eine vierköpfige Familie mit monatlich 8000 Franken Probleme hat, überrascht mich nicht», sagt Urban Hodel vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund SGB.
«Trotz 8500 Franken Einkommen müssen wir von Monat zu Monat leben», sagen Vicky (32) und ihr Mann Ivan (32). Das Paar hat zwei kleine Kinder und rechnet in der neusten 20-Minuten-Reportage vor, warum es für sie trotz Doppelverdienst finanziell eng ist (siehe Video). Ein Grund dafür ist das Schweizer Steuer- und Subventionssystem: «Ab einem gewissen Einkommen lohnt es sich oft kaum, mehr zu arbeiten», sagt Patrick Leisibach von Avenir Suisse. «Denn viele mittelständische Familien geraten in eine höhere Steuerprogression und profitieren wegen ihres Einkommens weniger von staatlicher Unterstützung.»20 Minuten hat mit zwei Beispielfamilien nachgerechnet, wie gross der Unterschied wirklich ist. Beide bestehen aus einem verheirateten Ehepaar mit zwei kleinen Kindern, leben in der Stadt Zürich und arbeiten gemeinsam 140 Prozent.
Steuern
Familie 1 hat ein Monatseinkommen von rund 8000 Franken netto, Familie 2 kommt auf einen Verdienst von 6000 Franken. Laut Steuerexperte Markus Stoll vom VZ Vermögenszentrum ergibt das mit den gängigen Abzügen ein steuerbares Einkommen von ungefähr 57'000 Franken für Familie 1 und rund 36'000 Franken für Familie 2. Beide haben ein Vermögen von 50'000 Franken. In der Stadt Zürich bezahlt Familie 1 laut dem Steuerrechner des Kantons damit 4057 Franken Steuern. Monatlich ergibt das einen Betrag von 338 Franken. Familie 2 bezahlt rund 1574 Franken Steuern jährlich. Pro Monat sind das 131 Franken.
Krankenkasse
In der Stadt Zürich beträgt die Durchschnittsprämie für Erwachsene über 26 Jahre 533 Franken monatlich, für Kinder sind es 133 Franken. Für eine vierköpfige Familie ergeben sich also monatliche Ausgaben von 1372 Franken. Laut dem Rechner der Sozialversicherungsanstalt Zürich haben beide Familien einen Anspruch auf eine Prämienverbilligung. Familie 1 zahlt dann 446 Franken monatlich, Familie 2 282 Franken.
Kinderbetreuung
Beide Familien geben ihre Kinder an zwei Tagen pro Woche in die Kita, an einem Tag schauen die Grosseltern. Pro Woche ergibt das vier Kita-Tage. In Zürich sind Kita-Plätze stark subventioniert. Während Familie 1 laut dem Kita-Rechner der Stadt 27 Prozent der Kosten selbst bezahlen muss, sind es bei Familie 2 sechs Prozent. Damit zahlt die Familie 1 659 Franken monatlich für die Kinderbetreuung, bei Familie 2 sind es 243 Franken.
Gesamt
Familie 1 hat mit 8000 Franken netto ein Drittel mehr zur Verfügung als Familie 2 mit 6000 Franken. Am Ende des Monats gibt Erstere aber 787 Franken mehr für Steuern, Kita und Krankenkasse aus als Familie 2. Sie verliert damit knapp 40 Prozent ihres Zusatzverdienstes von 2000 Franken gleich wieder. Das entspricht fast drei ganzen Arbeitstagen. «In der Schweiz wird rege umverteilt», sagt Patrick Leisibach von Avenir Suisse. Gerade die unteren Einkommensschichten bekommen viel Unterstützung: «Sie stehen dann am Schluss ähnlich da wie die, die mehr verdienen.» Hier gebe es ein Dilemma: «Einerseits will man umverteilen. Andererseits soll es Anreize geben, mehr zu arbeiten und davon zu profitieren.»
Mittelstand muss Gürtel enger schnallen
Verschiedene Experten und Expertinnen sehen Vicky und Ivan nicht als Einzelfall: «Dass eine vierköpfige Familie mit monatlich 8000 Franken Probleme hat, überrascht mich nicht», sagt etwa Urban Hodel vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund SGB. Bernadette Ritter Nigg von der Frauenzentrale Zürich zeigt ein Beispiel aus ihrer Budgetberatung: «Eine Familie mit zwei Kindern mit einem Nettoeinkommen von rund 8000 Franken ist Ende Monat sogar rund 1000 Franken im Defizit.» Ein grosser Ausgabenpunkt sei die Kinderbetreuung von zwei Tagen, die rund 2000 Franken ausmacht: «Die Kitas müssten meiner Meinung nach gratis sein.» Laut Philipp Frei, dem Geschäftsführer von Budgetberatung Schweiz, müssen auch Leute mit einem guten Lohn den Gürtel enger schnallen: «Man verbindet gewisse Sachen mit dem Mittelstand (siehe Box), wie zum Beispiel Ferien, ein Eigenheim und ein Auto.» Von dieser Vorstellung müsse man wegkommen. Die Realität sei heute, dass man als Familie mit 8000 Franken nicht auf Rosen gebettet sei.
Wo liegt der Mittelstand?
Laut dem Bundesamt für Statistik zählen alle zum Mittelstand, die zwischen 70 und 150 Prozent des Medianlohns verdienen. Der lag 2020 in der Schweiz bei 6665 Franken. Damit gehörten in diesem Jahr alle Schweizerinnen und Schweizer mit einem Einkommen zwischen 4665 und 9997 Franken zum Mittelstand.
Weiterlesen - ein Beitrag von Noah Knüsel, Helena Müller und Simona Ritter erschienen am 15.02.2023 auf www.20min.ch